Vorwürfe gegen Ex-Generalvikar von Lugano entkräftet

Kein zweiter Fall Kampusch

Im November machte eine Kuriosität im Tessin Schlagzeilen. Von einem zweiten Fall Kampusch war die Rede. Die Vorwürfe gegen den Ex-Generalvikar von Lugano erwiesen sich als haltlos. Doch ein fader Nachgeschmack bleibt.

Autor/in:
Raphael Rauch
Lugano Stadt am Luganersee im Schweizer Kanton Tessin / © SSKH-Pictures (shutterstock)
Lugano Stadt am Luganersee im Schweizer Kanton Tessin / © SSKH-Pictures ( shutterstock )

Entführung, Nötigung, Körperverletzung? Die schweren Vorwürfe der Tessiner Staatsanwaltschaft gegen den ehemaligen Generalvikar Azzolino Chiappini (80) vom November haben sich als haltlos herausgestellt. Dennoch muss sich das Bistum Lugano kritischen Fragen stellen - und ebenso die Medien.

Gibt es im Tessin eine zweite Natascha Kampusch? Die Nachricht, der frühere Generalvikar des Schweizer Bistums Lugano habe jahrelang eine Finnin gefangen gehalten, erinnerte zunächst an einen Fall in Österreich. Hier hielt ein Mann das Mädchen Natascha Kampusch jahrelang und unbemerkt in seinem Haus fest.

Gute und schlechte Nachrichten

Die gute Nachricht lautet: Der Fall ist harmloser als gedacht. Eine 48 Jahre alte Finnin wurde von einem Vertrauensmann, dem Ex-Generalvikar und emeritierten Theologieprofessor Chiappini, weder festgehalten noch drangsaliert. Sie leidet an schweren psychischen Problemen. Diese führten dazu, dass sie sich von der Außenwelt abschottete, nicht mal mehr ihre Stromrechnung bezahlte - und sich die Pakete vor der Wohnung stapelten.

Die schlechte Nachricht lautet: Es gibt weiter offene Fragen, die bislang unbeantwortet blieben. So hat etwa die Justiz keine Erklärung dazu abgegeben, warum sie einen 80 Jahre alten Priester drei Tage lang in Untersuchungshaft hielt.

Braucht man drei Tage, um ein Missverständnis zu klären? Drei Tage, um festzustellen, dass es sich um mangelnde Fürsorge, Überfordertsein, falsche Rücksichtnahme handelte - nicht aber um ein Verbrechen? Gingen die Behörden wirklich davon aus, dass ein hoch betagter, angesehener Theologieprofessor einfach untertauchen oder die (nicht begangene) Tat verdunkeln und ins Ausland fliehen würde, mitten in der Pandemie?

Doch auch das Bistum Lugano lässt Fragen unbeantwortet. Wie kann es sein, dass ein 80 Jahre alter, zölibatär lebender Priester mit einer 48-jährigen Finnin zusammenlebt, die nicht mehr die Wohnung verlässt? Dass sich die Pakete vor der Wohnungstür stapeln und niemand davon etwas mitbekommen haben will?

Zu lange weggeschaut

Der ehemalige Generalvikar wohnte nicht in einem Landhaus in den Tessiner Bergen, sondern mitten in der Altstadt von Lugano; etwa 200 Meter entfernt von der Kathedrale, zusammen mit anderen Domherren. Warum ließen sie ihren Mitbruder gewähren, konfrontierten ihn oder halfen ihm nicht? "Keiner von ihnen ist eingeschritten, obwohl die Anormalitäten offenkundig waren", sagt ein Kenner der Diözese.

Zu lange hat die Kirche weggeschaut, wo sie hätte hinschauen sollen. Zu lange blieb sie sprachlos, wo sie hätte kommunizieren sollen. Der Vorfall von Lugano ist weniger schlimm, als alle dachten. Aber schlimm genug ist, wenn nun alle zur Tagesordnung übergehen. Dabei wäre weitere Aufklärung angesagt.

Auch die Medien haben Fehler gemacht, haben über eine angeblich "dunkle Seite des Ex-Generalvikars" berichtet, von "zwölf Jahren Martyrium" gesprochen und das Entsetzen in der Diözese thematisiert.

Selbst wenn man auf die Unschuldsvermutung verweist: Wer von anderen mehr Kommunikation einfordert, muss selbst umso klarer eingestehen, dass die eigenen Hypothesen falsch waren.


Quelle:
KNA