Generalsekretär Mogge bilanziert 60 Jahre Welthungerhilfe

"Nach Feiern kann uns nicht zumute sein"

Am 14. Dezember 1962 wurde die Deutsche Welthungerhilfe gegründet. Im Interview zieht Generalsekretär Mathias Mogge eine Bilanz und erklärt, warum man Kontakte zu Politikern aller Parteien unterhält - mit einer Ausnahme.

Mathias Mogge / © Joachim Heinz (KNA)
Mathias Mogge / © Joachim Heinz ( KNA )

KNA: 60 Jahre Welthungerhilfe - ist Ihnen nach Feiern zumute?

Mathias Mogge (Generalsekretär der Deutschen Welthungerhilfe): Nach Feiern kann uns gar nicht zumute sein, da die aktuelle Hungersituation wirklich erschreckend ist. Die Zahl der Menschen, die unter akutem Hunger leiden, also auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind, ist zuletzt auf etwa 350 Millionen gestiegen. Das ist eine Verdoppelung im Vergleich zu 2019, das Referenzjahr vor der Corona-Pandemie.

KNA: Ist das Ziel, bis 2030 ein Ende des Hungers zu erreichen, überhaupt noch zu schaffen?

Mogge: Ich bin eigentlich ein Optimist. Aber wenn die Entwicklung einfach so weitergeht, wenn wir keine beherzte Klimapolitik machen, wenn wir nicht die vielen Konflikte angehen, dann wird dieses Ziel tatsächlich kaum zu schaffen sein.

KNA: Was heißt das für die Politik?

Mogge: Mehr Zusammenarbeit auf globaler Ebene. Daran führt kein Weg vorbei. Das gilt für den Kampf gegen die Erderwärmung, aber auch bei der Suche nach Lösungen von Konflikten. Wir brauchen mehr Friedensinitiativen und weniger Aufrüstung.

KNA: Inwiefern beeinflusst der Krieg in der Ukraine die Not- und längerfristige Entwicklungshilfe?

Mogge: In der Ukraine wird in großem Maßstab Nothilfe geleistet. Das ist bis zu einem gewissen Grade sehr richtig und sinnvoll. Aber wir merken auch, dass in anderen Ländern teilweise das Geld so knapp ist, dass man die eigentlich notwendige Nothilfe gar nicht leisten kann.

Davon abgesehen sollten wir viel stärker in die vorausschauende humanitäre Hilfe investieren.

KNA: Was meinen Sie damit?

Mogge: Wir müssen zum Beispiel viel früher erkennen, wann sich in einer Region eine Dürre ankündigt, statt erst mal ein paar Jahre zu warten. Dann kommt man aus so einer Nothilfeschleife kaum noch raus.

KNA: Unterdessen setzt Wladimir Putin die Weltgemeinschaft unter Druck, indem Russland Weizenlieferungen aus der Ukraine zurückhält. Wie kann man sich dagegen wappnen?

Mogge: Indem man zunächst mal ganz klar benennt, dass in diesem Fall Hunger als Waffe benutzt wird. Dann lohnt es darüber nachzudenken, wie wir unsere Ernährungsgewohnheiten verändern können - sowohl in den Industrieländern wie auch in den Entwicklungsländern. Auch dort gibt es inzwischen den Trend zu mehr Konsum von Fleisch und Milchprodukten sowie Backwaren auf Weizenbasis.

Diese Entwicklung müssen wir umkehren. Ich glaube, dass man über Aufklärungsarbeit etwa zu den Zusammenhängen zwischen Lebensmittelproduktion und Klimawandel durchaus Veränderungen bewirken kann. Auf lange Sicht sind wir darüber hinaus alle gut beraten, die heimische Landwirtschaft besser zu fördern.

KNA: Das heißt bezogen auf Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika?

Mogge: Kleinbauern stärken, Marktzugänge schaffen, in Infrastruktur investieren und auf den Anbau lokaler und widerstandsfähiger Nutz- und Ackerpflanzen setzen, innovative lokale Initiativen unterstützen.

KNA: Das alles erzählen wir uns aber nun schon seit Jahren.

Mogge: Wenn man sich die Zahlen anschaut, denkt man vielleicht: Da ist ja gar nichts passiert; die Welthungerhilfe hat in den vergangenen 60 Jahren gar nichts erreicht.

KNA: Aber?

Mogge: Dem würde ich ganz klar widersprechen. Die Aufforstungs- und Bodenschutzprojekte, die wir zum Beispiel in der Sahel-Region in den vergangenen Jahrzehnten durchgeführt haben, tragen erst jetzt so richtig Früchte.

Ich habe das selbst in Burkina Faso oder im Niger gesehen: So etwas funktioniert - aber dafür braucht man einen langen Atem. Wenn dann allerdings Konflikte aufbrechen, wird vieles davon zunichte gemacht. Weil zum Beispiel Menschen nicht mehr auf ihre Felder gehen aus Angst, überfallen zu werden.

KNA: Lässt Sie das nicht resignieren?

Mogge: Menschen haben immer ganz starke Selbsthilfepotenziale. Sie haben ein Interesse daran zu überleben; ein Interesse auch im Sinne der Entwicklung ihrer Kinder, dass sie Einkommen erwirtschaften, dass sie sich ernähren können von dem Stück Land, auf dem sie leben. Daran müssen wir anknüpfen.

KNA: Wie wollen Sie das tun?

Mogge: Künftig werden wir noch stärker die Gemeinschaften im ländlichen Raum ansprechen, gemeinsam mit ihnen nach Lösungen suchen und bei Behörden und Regierungen nachfragen, wo das Geld bleibt, das sie den Menschen versprochen haben.

Local Governance heißt das Stichwort. Das kostet Kraft, das kostet Geld, da muss man mit vielen Menschen sprechen und dann nach Lösungen suchen, die nicht immer fertig in der Schublade liegen. Dafür braucht man Neugier, aber auch Expertise - beides haben wir.

KNA: Trotz aller Bemühungen verlassen immer noch viele Menschen ihre Heimat, um in Europa ihr Glück zu versuchen. Wie blickt die Welthungerhilfe auf den Umgang Europas mit Migranten und Flüchtlingen?

Mogge: Es ist sehr schade, dass sich die EU, die sich ja immer Humanität und Menschenrechte auf die Fahnen schreibt, nicht auf einen Schlüssel zur Verteilung von Flüchtlingen verständigt hat; geschweige denn auf Regeln für eine legale Einreise von Migranten. Dabei ist Deutschland ebenso wie andere EU-Staaten auf Zuwanderung angewiesen.

KNA: Der Bundespräsident ist traditionell Schirmherr der Welthungerhilfe, deren Hauptsitz immer noch Bonn ist. Wie eng sind die Drähte nach Berlin?

Mogge: Dass der Bundespräsident die Schirmherrschaft über die Welthungerhilfe übernimmt, ist kein Automatismus. Wir fragen bei jeder Wahl eines neuen Präsidenten an, ob er oder sie dieses Amt übernehmen will. Bislang erklärte sich der jeweilige Bundespräsident zudem immer bereit, einmal im Jahr eine Rede zur Woche der Welthungerhilfe zu halten.

Diese Unterstützung hilft uns sehr, ebenso wie es immer wieder Besuche der jeweiligen Staatsoberhäupter in unseren Projekten gab. Bei der Gründung der Welthungerhilfe hat der Bundespräsident eine sehr aktive Rolle gespielt.

KNA: Welche Rückmeldungen bekommen Sie eigentlich aus dem Parlament?

Mogge: Bei allen Gesprächen, die ich bislang mit den Abgeordneten der demokratischen Parteien führen durfte, habe ich noch nie erlebt, dass einer gesagt hätte: "Was kommt ihr mir hier mit eurer Entwicklungshilfe und internationalen Zusammenarbeit - wir haben eigene Probleme, und die sind viel wichtiger." Das macht Mut.

KNA: Gilt das auch für die AfD?

Mogge: Alle Äußerungen dieser Partei sind geprägt von einem tiefen Misstrauen gegenüber internationaler Zusammenarbeit. Zudem sind die Äußerungen und Positionen zur Flüchtlingspolitik und insgesamt Fragen der Migration mit unseren Überzeugungen nicht vereinbar. Auch stellen wir eine klare Ablehnung der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen fest. All dies macht diese Partei schwer erträglich. Und daher suchen wir auch nicht den Kontakt zur AfD.

KNA: Wie schaut es bei den Spendeneingängen aus - sorgen Corona und Ukraine-Krieg für Rückgänge?

Mogge: Nein. Vielleicht haben die Flutkatastrophe im Westen Deutschlands und die Preissteigerungen, die wir infolge des Ukraine-Kriegs in den vergangenen Monaten gesehen haben, vielen Bundesbürgern noch einmal die Augen geöffnet, unter welch schwierigen Bedingungen Menschen in anderen Teilen der Welt leben müssen. Für diese Solidarität sind wir als Organisation sehr dankbar.

KNA: Was gibt Ihnen sonst noch Hoffnung?

Mogge: Der unglaubliche Elan der Bevölkerung in den Ländern, in denen wir Hilfe leisten. Wir haben es mit Menschen zu tun, die an sich selbst glauben, an ihre Familie, an ihre Gemeinschaft, an ihr Land - trotz aller Probleme.

Das Interview führte Joachim Heinz.

Welthungerhilfe

Wir kämpfen gegen weltweiten Hunger und für nachhaltige Ernährungssicherheit. Das umfasst die Förderung standortgerechter Landwirtschaft, den Zugang zu sauberem Wasser, umweltfreundlicher Energieversorgung und die Verbesserung von Gesundheit und Bildung. Überall dort, wo wir arbeiten, streben wir die Beendigung von Hunger bis zum Jahr 2030 an (#ZeroHunger).

Hilfe zur Selbsthilfe

Symbolbild Hunger / © MIA Studio (shutterstock)
Quelle:
KNA