Südafrika, Rassismus und Corona

"Der Geist der Apartheid"

Polizei und Militär gehen gegen das eigene Volk vor. An manchen Tagen sterben mehr Menschen durch staatliche Gewalt, als durch das Virus. Gerade zur Corona-Zeit wird klar: Seine Vergangenheit hat Südafrika nie richtig aufgearbeitet.

Rassentrennung in Südafrika / © KNA-Bild (KNA)
Rassentrennung in Südafrika / © KNA-Bild ( KNA )

HIMMELKLAR: Unter dem Stichwort “Black Lives Matter“ demonstrieren in aller Welt Menschen gegen Rassismus und Gewalt gegen Schwarze. Südafrika hat mit der Apartheid eine ganz eigene Geschichte mit Rassismus. Welche Rolle spielt das Thema bei Ihnen heute noch?

Stefan Hippler (Pfarrer der deutschen Gemeinde Kapstadt): Rassismus ist ein Riesenthema hier, seitdem ich Südafrika kenne und in Südafrika lebe. Rassismus ist inzwischen ein Thema, das vor allen Dingen junge Menschen diskutieren. Es gibt sehr viele Streiks, Demonstrationen gegen Rassismus. Es ist ein ganz schwieriges Thema hier in Südafrika. Und leider Gottes ist es so, dass, ich sage mal, die eher weiße Bevölkerung sehr vorsichtig sein muss, was sie sagt.

HIMMELKLAR: Das heißt konkret?

Hippler: Also ein Tweet, unglücklich formuliert, kann hier wirklich zum Volkszorn führen. Da geht es richtig zur Sache. Auch mit Todesdrohungen und allem, sobald die Volksseele nur das Gefühl hat, ein Weißer könnte die Schmerzen und die Verletzungen der Apartheidszeit nicht ernst nehmen und auch nicht willig sein, dafür Reparationen zu zahlen. In welcher Weise auch immer. Also ein unheimlich sensibles Feld hier in Südafrika. Auf der anderen Seite gibt es sehr viel Polizeigewalt hier, das heißt Schwarz gegen Schwarz.

HIMMELKLAR: Südafrika wird ja aber eigentlich eher gelobt für seinen Umgang mit der Vergangenheit. Es gibt auch staatliche Stellen, die sich darum kümmern, dass die, Rassen-Spannungen nicht in Vergessenheit geraten. - Das klingt jetzt aber nicht so, als ob das wirklich erfolgreich wäre.

Hippler: Nein. Leider ist die Berichterstattung über Südafrika teilweise eine Katastrophe, wenn man Deutschland oder Europa ansieht. Nach dem Ende der Apartheid gab es die sogenannte "Truth and Reconciliation Commission", Erzbischof Tutu war damals der Vorsitzende, wo es um Wahrheitsfindung ging. Und natürlich weiß in Südafrika jeder, was in der Apartheidszeit passiert ist.

Was in einem zweiten Schritt nicht erfolgt ist, ist die Heilung. Was machen wir damit? Das heißt, die Leute haben die Geschichten gehört. Viele Dinge sind immer noch nicht aufgeklärt, aber die meisten, davon weiß man, davon weiß die Bevölkerung. Aber es hat nie der Prozess stattgefunden: Wie heile ich diese Wunden, über die gesprochen wurde?

HIMMELKLAR: Welche Rolle spielt da die Politik?

Hippler: Nach Nelson Mandela ging das ja mit unserer Regierung relativ schnell den Berg runter, Thabo Mbeki (1999 bis 2008 Präsident) war noch halbwegs in Ordnung, außer wenn es um HIV/Aids ging. Dann Jacob Zuma (2009-2018), der hatte ja den Staat sozusagen ausverkauft. Und Cyril Ramaphosa (seit 2018), der als Vizepräsident immer die Augen zugemacht hat, hat momentan als Präsident auch nicht viel zu bieten. Das heißt: Heilung hat nie stattgefunden, und jeder in Südafrika läuft immer noch mit einem Paket von Schuld herum. Schwarze laufen mit dem Paket herum, dass sie vielleicht nicht genug beim Aufstand teilgenommen haben.

Die ganze Geschichte der Menschenrechtsverletzungen in ANC-Camps (African National Congress) ist auch noch nicht aufgearbeitet. Da ist ja auch nicht alles nach Menschenrechten sozusagen verhandelt worden. Da gab es ja auch ziemlich viel Brutalität und so weiter. Das heißt, es gibt immer noch viel Wund-sein. Und es gibt nichts, was heilsam wäre.

HIMMELKLAR: Welche Rolle spielen die Proteste und Bewegungen, die wir momentan auf der ganzen Welt erleben?

Hippler: Das ist relativ ruhig hier in Südafrika, muss ich sagen. Das hängt einmal damit zusammen, dass die Leute relativ wenig Zeit haben. Wer nach sieben Wochen Lockdown zum ersten Mal wieder versucht, ein bisschen Geld zu verdienen, hat andere Probleme, als wegen Rassenfragen auf die Straße zu gehen. Zumal das hier ein Dauerthema ist. Also nichts Neues, sage ich jetzt einmal. Interessant ist, dass sich der ANC da wahnsinnig herausgehangen hat, was Rassenfragen in Amerika angeht, während in Südafrika das Thema eigentlich nur politisch benutzt wird, sage ich mal, aber man wenig dafür tut, dass die Rassenfrage hier wirklich geklärt wird.

Wir haben ein Stück weit immer noch den ungeklärten Rassismus hier in Südafrika. Das ist einfach so, weil viele Schwarzafrikaner das Gefühl haben, es ist noch nicht alles geregelt worden. Die Frage der Landverteilung ist in Südafrika immer noch eine, die noch nicht klar ist. Eigentlich sollte es ja die Landverteilung ohne Kompensation geben, das heißt, es kann enteignet werden. Das ist aber immer noch kein Gesetz, weil Corona und Covid-19 da einen Strich durch die Rechnung gezogen haben, zeitlich gesehen. Das heißt, die wichtigsten Fragen, wo es um Ausgleich geht, sind noch nicht geklärt in Südafrika. Wir haben einen Staat, der sozusagen fast nur noch auf Schulden aufgebaut ist. Und wir haben eine Bevölkerung, die im Prinzip momentan nicht weiß, wie es mit Südafrika weitergeht. Schwierig.

HIMMEKLAR: Da müssen die Leute doch eigentlich erst recht auf die Straße gehen wollen, wenn es solche Spannungen gibt

Hippler: Die Leute gehen auf die Straße, aber nicht wegen Rassismus, sondern, weil sie nichts zu essen haben. Die Leute gehen auf die Straße, weil, was wir Service Delivery nennen, nicht funktioniert. Die Leute haben kein Wasser.

Wir haben Schulen, wo es immer noch Plumpsklos gibt, und weder Stühle noch Tische. Es gibt Dörfer und Städte, wo das Gesundheitssystem nicht funktioniert. Es gibt viele Städte, die vollkommen verschuldet sind, weil das Geld gestohlen worden ist. Und das heißt im Prinzip: Es kann weder Strom noch Wasser von der Gemeinde zur Verfügung gestellt werden. Das heißt, das sind die Themen, für die die Leute auf die Straße gehen.

HIMMELKLAR: Sprich: Es gibt dringendere Probleme als die politische Debatte um Schwarz und Weiß.

Hippler: Richtig. Schwarz und Weiß ist auch nur ein Teil des Problems. Sie dürfen nicht vergessen, dass wir in Südafrika sehr viele Könige haben. Wir haben ja das "House of Traditional Leaders", also sozusagen ein zweites, kleines Parlament mit ein paar Befugnissen, wo es um traditionelle Führungspersönlichkeiten geht.

HIMMELKLAR: Das heißt, da gibt es noch ganz andere Spannungen?

Hippler: Wir haben zum Beispiel den König der Zulus. 1994, als die ersten freien Wahlen waren, wollten die Zulus nicht mitmachen, und man hat im Prinzip die Zulus überredet, indem man ihnen etwas gegeben hat: Man ihnen eine Stiftung gegeben, wo der Zulu-König Herr über ziemlich viel Land in der Provinz KwaZulu-Natal ist. Er ist der einzige, der dort das Geld herauszieht.

Und jetzt geht es um Enteignung. Wir haben viele Menschen vom Stamm der Xhosa in der Regierung. Da ist natürlich die Frage: Kann ein Xhosa, kann ein anderer, der nicht Zulu ist, plötzlich bestimmen, dass auch ein Zulu-König Sachen abgeben muss? Dass Enteignungen stattfinden, mit anderen Schwarzen, mit Brüdern, die nicht aus dem eigenen Volksstamm sind?

Da gab es Situationen, wo dann der Präsident etwas gesagt hat, was falsch war. Am nächsten Tag kniet er vor dem König in Zulu-Land, um Abbitte zu leisten. Und der Zulu-König sagt: Wenn ihr mein Land enteignet, dann gibt's Krieg. Was ich damit sagen und aufzeigen will: Die Probleme sind nicht nur schwarz/weiß. Für meine Begriffe sind das die wenigsten Probleme. Wir haben massive Probleme schwarz/schwarz innerhalb Südafrikas. Und noch ein viel größeres Problem: schwarze Südafrikaner – und der Rest von Afrika. Wir haben alle zwei, drei Jahre fremdenfeindliche Ausschreitungen, wo Menschen ums Leben kommen. Da ist vieles, wo Rassismus herrscht, was nicht unter das weiß/schwarze Schema fällt. Was Europa immer so gerne aufgreift. Aber da haben wir ganz andere Probleme.

HIMMELKLAR: Da merken wir, dass die Situation doch ein bisschen komplizierter ist, als wir es uns in Deutschland manchmal einreden wollen.

Hippler: Ja, es ist kompliziert, einmal von den Fragen von Rassen, oder von Volksstämmen und Traditionen. Es ist kompliziert, auch von der Geschichte her. Wir reden immer von der Apartheids-Zeit, Vorher hatten wir die Voortrekker. Weiße, sozusagen die Nachfolger der ersten Aussiedler aus Holland und so weiter. Und wenn wir ein bisschen weiter gucken, dann sehen wir, dass die damals von den Engländern unterdrückt wurden. Die ersten Konzentrationslager haben die Engländer erfunden für weiße Südafrikaner. Da sind Hunderttausende ums Leben gekommen, verhungert, im wahrsten Sinne des Wortes. Das heißt, die Geschichte Südafrikas ist so vielfältig, und jeder kann sich sozusagen ein Stück rausziehen, es ist wie in der Bibel. Ich finde immer ein Stück, das mir recht gibt. Das ist hier in Südafrika eine Gemengelage, die ist wirklich wahnsinnig, wenn man von außen rein kommt.

Ich bin jetzt 22 Jahre im Land. Man muss sich ganz langsam vortasten, um zu verstehen: All diese Gefühlslagen, die es gibt. Südafrikaner haben ein langes Gedächtnis. Viele können sagen, wann 1778 der Urgroßvater von Holland oder von Deutschland gekommen ist. Und die Leute sind stolz auf diese Ahnenkette. Das geht bei den schwarzen Südafrikanern genauso, und genauso haben sie die ganze Geschichte mit im Gepäck. Wenn wir heute über Rasse, wenn wir heute über Geschichte, wenn wir heute über Gerechtigkeit und die gerechte Verteilung von Gütern sprechen. Das ist viel komplizierter, als das von außen her gesehen wird.

HIMMELKLAR: Und dann kommt noch das Corona-Virus dazu. Wie sieht da die Lage aus in Südafrika?

Hippler: Wir sind ja noch im Lockdown. Wir hatten hier einen der frühesten Lockdowns, als die Corona-Krise hier in Südafrika anfing, und damit einen der längsten. Wir sind ja schon Wochen im Lockdown und sind von Stufe fünf auf Stufe drei jetzt heruntergekommen. Stufe fünf war absolut zu Hause bleiben, nur ganz wenige durften zur Arbeit gehen. Das war wirklich ganz streng. Es gab keine Möglichkeit, Zigaretten zu kaufen, keine Möglichkeit, Alkohol zu kaufen. Man durfte also nur raus um Brot, Butter und Marmelade zu kaufen. Die Regierung hat sogar vorgeschrieben, was man kaufen durfte. Dann sind wir nach geraumer Zeit eine Stufe runter gestiegen auf Level vier, da durften wir zwischen sechs und neun Uhr morgens Sport treiben, draußen. Das heißt im Endeffekt: Wer stand, wurde verhaftet, weil er keinen Sport treibt. Und das meine ich ganz ernst. Wir haben Leute, die wurden verhaftet, weil sie einfach nur draußen standen. Also auch sehr streng. Da hat die Regierung etwas mehr Geschäfte geöffnet, aber trotzdem gesagt, was wir kaufen dürfen.

Wir hatten also ganz bizarre Diskussionen. Welche Art von T-Shirts dürfen zum Beispiel verkauft werden? Ist ein T-Shirt ein Sommer-Kleidungsstück oder ein Winter-Kleidungsstück? Welche Schuhe sind Winterschuhe und welche sind Sommerschule? Die Polizei ist wirklich durch Geschäfte gegangen und hat gesagt: Das darf nicht verkauft werden, das darf verkauft werden. Es ist schon irre.

Wir sind weiterhin jetzt auf Stufe drei. Das heißt, wir dürfen inzwischen Alkohol an bestimmten Tagen kaufen, aber weiterhin keine Zigaretten. Also alle Raucher sind seit acht, neun Wochen ohne ihren Stoff, und man kann sich vorstellen, wie der Schwarzmarkt blüht. Man findet es überall, aber nicht in den Geschäften. Das ist verboten.

Was die Zahlen angeht, war das am Anfang einfach. Wir hatten ganz geringe Zahlen. Wir haben also ganz wenige Todesfälle gehabt. Das ändert sich momentan. Wir haben momentan 58.568 (Stand: 12. Juni) bestätigte Fälle, wo wir momentan pro Tag ungefähr 3000 neue Infektionen dazukommen. Und wir haben 1284 Tote bis jetzt. Das steigt auch um 50 bis 70 pro Tag momentan. Das ist relativ wenig, wenn man an andere Länder denkt, aber relativ viel, weil wir immer noch am aufsteigenden Ast sind, und versuchen trotzdem, jetzt die Wirtschaft wieder in Gang zu kriegen. Es ist also eine ganz komische Situation, die wir haben, zumal auch die Regeln sehr streng durchgesetzt worden sind. Ich bin sicher, Sie haben gehört, dass das Militär hier in Südafrika komplett im eigenen Land eingesetzt wurde. Wir haben Tage gehabt in Südafrika, wo die Todesfälle durch Gewaltanwendung, Polizei und Militär größer war als die Todesfälle von Corona. Ich sage es mal liebevoll: Der Geist der Apartheid: Dieser Korpsgeist. Dieser Geist wie die Staatsmacht, wie Militär die Polizei mit Menschen umgeht, gerade auch in den Townships, das schien sich plötzlich nicht mehr geändert zu haben seit dem Beginn des neuen Südafrikas.

HIMMELKLAR: Was bringt Ihnen Hoffnung in der Lage?

Hippler: Hoffnung bringt mir hier, dass die Menschen zum größten Teil einfach echt sind. Hier gibt es nicht diese feine Schicht von Kultur, die ich von Europa her kenne. Was man tut und was man lässt und wie man Dinge tut, sondern hier lebt man unmittelbar. Und diese Unmittelbarkeit gibt auch eine Ehrlichkeit. Eine Ehrlichkeit, mit der man arbeiten kann. Eine Ehrlichkeit, die auch die Möglichkeit gibt, Dinge zu verändern. Man klopft hier nicht um Busch rum, sondern Dinge werden angegangen, wie sie sind, und sie sind echt.

Das Gespräch führte Renardo Schlegelmilch.

Das Interview ist Teil des Podcasts Himmelklar – ein überdiözesanes Podcast-Projekt koordiniert von der MD GmbH in Zusammenarbeit mit katholisch.de und DOMRADIO.DE. Unterstützt vom Katholischen Medienhaus in Bonn und der APG mbH. Moderiert von Renardo Schlegelmilch.


Stefan Hippler, Pfarrer in Kapstadt / © Silvia Ochlast (DR)
Stefan Hippler, Pfarrer in Kapstadt / © Silvia Ochlast ( DR )

Podcast: Himmelklar - Fürchtet Euch nicht (MDG)
Podcast: Himmelklar - Fürchtet Euch nicht / ( MDG )
Quelle:
DR
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