Adveniat beklagt Situation in Haiti zehn Jahre nach Erdbeben

Fehlende Strukturen vor Ort

Zehn Jahre ist es her, dass ein verheerendes Erdbeben auf Haiti Hunderttausende Haitianer getötet und Millionen obdachlos gemacht hat. Auch zehn Jahre später noch leiden die Menschen unter den Folgen.

Zehn Jahre nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti / © Nick Kaiser (dpa)
Zehn Jahre nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti / © Nick Kaiser ( dpa )

DOMRADIO.DE: Es gab damals unglaublich viel Hilfe: Milliarden-Spenden, Charity-Konzerte rund um den Globus. Warum hat denn das alles offenbar nicht geholfen?

Margit Wichelmann (Haiti-Referentin des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat): Weil es in einer solchen apokalyptischen Situation, wie sie nach dem Erdbeben bestand, unbedingt notwendig ist, dass es vor Ort Strukturen gibt, die in der Lage sind, die Hilfsprozesse zu strukturieren und zu steuern. Das war in Haiti überhaupt nicht der Fall.

Man braucht auch vor Ort Partner, auf die man sich verlassen kann und die man kennt, die in der Lage sind, die Gelder, die dann fließen sollen, gut zu verwenden. Da spielt in der Regel der Staat eine sehr gewichtige Rolle und sollte den ganzen Prozess steuern. Der Staat ist aber quasi komplett ausgefallen, war selbst durch das Erdbeben stark betroffen und ist auch schon vor dem Erdbeben von Korruption und Misswirtschaft geprägt gewesen.

DOMRADIO.DE: Ist das ein Grund dafür, dass dieses Land nicht auf die Beine kommt?

Wichelmann: Ich würde sagen, es ist der Hauptgrund. Die Korruption ist omnipräsent. Das Bemühen derjenigen, die Verantwortung im Land übernehmen, ist, für ihr eigenes Wohl einzustehen und in die eigene Tasche zu wirtschaften, sodass es dort wenig gemeinschaftliche Perspektiven zum Wohl des Landes gibt.

DOMRADIO.DE: Sie sind als Haiti-Referentin von Adveniat regelmäßig da. Wie leben denn die Menschen in Haiti?

Wichelmann: Ich erlebe Menschen, die ein unglaubliches und beeindruckendes Durchhaltevermögen haben, aber am Ende ihrer Kräfte sind. Wenn man ein bisschen aus der Hauptstadt, die besonders vom Erdbeben betroffen war, hinausfährt, gibt es dort ein neues Siedlungsgebiet, wo vorher gar nichts war – nur Büsche und plattes Land. Nach dem Beben sind viele Menschen dorthin umgesiedelt worden.

Mittlerweile ist das eine eigene Stadt für sich – und dort gibt es nichts. Die Menschen haben keine Möglichkeit, eigene Sachen anzubauen. Sie müssen sich Wasser, selbst Brauchwasser (Für geweerbliche oder industrielle Zwecke bestimmtes Wasser, das nicht als Trinkwasser geeignet ist, Anm. d. Red.) kaufen, weil es vor Ort kaum möglich ist, Brunnen zu bohren. Viele Menschen haben dort zum Beispiel noch nicht einmal die Möglichkeit und das Geld, sich Trinkwasser zu kaufen. Sie kaufen sich Brauchwasser, um es dann zu trinken. Die Situation ist unfassbar schwer.

Die Proteste, die derzeit das Land lahmlegen, machen die Situation natürlich noch viel unmenschlicher. Die Schulen sind seit langem geschlossen. Jetzt gerade gibt es eine etwas ruhigere Phase, wo einzelne Schulen wieder aufmachen. Das wird aber wahrscheinlich nur von kurzer Dauer sein. Die Krankenhäuser können ihre Materialien nicht kaufen und sind geschlossen. Selbst Lebensmittel und Wasser zu besorgen müssen, ist eine hohe Herausforderung. Und all das führt dazu, dass das Land und vor allem die Bevölkerung, und da besonders die arme Bevölkerung, sehr, sehr stark leidet.

DOMRADIO.DE: Seit dem Erdbeben kamen und gingen mehrere Präsidenten. Keinem gelang eine nachhaltige Verbesserung der Lage. Ein großes Problem ist die Korruption. Geht es nur mit Hilfe von außen?

Wichelmann: Das glaube ich auf keinen Fall. Hilfe von außen, ja, aber zu starken Einfluss von außen nicht, denn den hat es in den vergangenen Jahrzehnten oder Jahrhunderten genügend gegeben. Und es hat überhaupt nicht dazu geführt, dass es dem Land besser geht. Es ist notwendig, dass es quasi einen Umschwung oder eine Bewegung von unten aus dem Land heraus gibt, die sich dafür einsetzt, dass es eine neue Form von stabilerer Politik gibt. Es muss Menschen geben, die die Verantwortung übernehmen, die nicht nur auf der Suche nach Macht und nach eigenem Vorteil sind. Da kann Hilfe von außen diesen Prozess unterstützen und fördern. Aber der Prozess selbst muss von innen aus kommen.

DOMRADIO.DE: Adveniat hilft ja auch. Sie fördern zahlreiche Projekte. Sie haben schon gesagt, dass es schwierig ist, zuverlässige Partner zu finden, wenn die Korruption so verbreitet ist. Wie versuchen Sie denn da zu gucken, dass Ihre Spendengelder nicht irgendwo verschwinden?

Wichelmann: Viele Leute oder viele Institutionen, die nach dem Beben ins Land gekommen sind, hatten genau das Problem, dass sie keine Partner hatten und dann die Hilfe sehr unstrukturiert geschehen ist. Das ist natürlich ein großer Vorteil von uns als Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat, dass wir schon vor dem Beben Jahrzehnte im Land präsent waren und auf eine verlässliche Partnerstruktur zurückgreifen konnten nach dem Beben. Wir mussten uns die Partner nicht erst suchen, sondern wir hatten die schon seit langem.

Das ist natürlich ein großer Vorteil, um unmittelbar und direkt vor Ort sofort tätig werden zu können. Sei es in der Unterstützung von traumatisierten Menschen, im Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur und in all dem Wirken, was die Kirche vor Ort hat, um den Menschen in dieser Situation zur Seite zu stehen, neue Hoffnung zu geben und auch eine Stimme zu verleihen.

Das Interview führte Heike Sicconi. 

Haiti

 © Mizkit (shutterstock)

Das karibische Haiti mit seinen rund elf Millionen Einwohnern und seinen zuletzt vermehrt auftretenden Naturkatastrophen ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Etwas kleiner als Belgien, nimmt der Karibikstaat das westliche Drittel der Insel Hispaniola ein. Haiti ist mit seinen etwa 11,5 Millionen Einwohner dichter besiedelt als Deutschland. 

Quelle:
DR