Vor 30 Jahren: Die längste Menschenkette aller Zeiten

Der "Baltische Weg" wies in die Freiheit von der Sowjetunion

Ergreifende Szenen von 1989: Deutsche haben meist offene Schlagbäume vor Augen, Jeansjacken und Mauerbesetzung, Schwarz-Rot-Gold, Klopfen auf Trabi-Dächer. Im damals sowjetischen Baltikum drehte sich alles um eine Kette.

Autor/in:
Alexander Brüggemann
Symbolbild Menschenkette / © William Perugini (shutterstock)
Symbolbild Menschenkette / © William Perugini ( shutterstock )

Im Gediminas-Turm, dem letzten Rest der alten Festung oberhalb von Vilnius, laufen in einer Dauerschleife TV-Bilder, so verwaschen wie anrührend. Die Parlamentsabgeordneten der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik erheben sich von ihren Plätzen und stimmen die verbotene litauische Nationalhymne an: "Lietuva, Tevyne musu, tu didvyriu zeme" (Litauen, unser Vaterland, Land der Heldengrößen). Die Kameraleute, an öde Politbüro-Tristesse gewöhnt, laufen aufgeregt hin her; wissen gar nicht, was sie zuerst aufnehmen sollen. Es ist der 23. August 1989 - ein Schicksalstag für das Baltikum.

Draußen auf der Straße bilden gleichzeitig zwischen ein und zwei Millionen Teilnehmer die größte Menschenkette aller Zeiten. 620 Kilometer überspannen sie von Vilnius über Riga bis nach Tallinn. Litauen, Lettland und Estland, die drei baltischen Sowjetrepubliken wider Willen, wollen ihre Unabhängigkeit. Anlass für diese riesige Demonstration ist der 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939, der die Interessensphären der beiden Diktaturen in Mittel- und Osteuropa absteckte. Nach seinem Geheimen Zusatzprotokoll fiel das Baltikum völkerrechtswidrig an die Sowjetunion.

Fremdherrschaft abgeschüttelt

Erst 1919 hatten die Esten, Letten und Litauer nach Jahrhunderten die Fremdherrschaft abgeschüttelt und erstmals ihre staatliche Unabhängigkeit als Republiken erklärt. Doch der Hitler-Stalin-Pakt machte das mit den Unterschriften der Außenminister Molotow und von Ribbentrop zunichte. Und die Sowjets unterließen kaum etwas, um die Balten zu demütigen. So wurde etwa das Freiheitsdenkmal am Rande des Rigaer Zentrums zum städtischen Busbahnhof degradiert. Bis 1955 wurden rund eine halbe Million Balten nach Sibirien deportiert, um die Widerstände zu brechen. 1989 nun gaben sich ein bis zwei Millionen Menschen die Hände.

Litauen, Lettland und Estland hatten damals zusammen weniger als acht Millionen Einwohner. Allein schon die Verabredung dazu war eine eigentlich unglaubliche logistische Leistung - ganz ohne Facebook, Whatsapp, ja sogar ohne das Internet. Den Aufruf gestartet hatten Intellektuelle der drei Staaten, die sich je national in sogenannten Volksfronten organisiert hatten. Per Zeitung teilten sie mit, wohin sich die Teilnehmer begeben sollten.

"Freiheit!"

Und die Menschen kamen, wie durch ein Wunder zumeist pünktlich; zu Fuß, mit dem Fahrrad, im Auto oder in Bussen ihrer volkseigenen Betriebe. In Litauen gab es einige logistische Probleme; viele steckten zu lange im Stau. Eine zweite Kette zwischen Kaunas und Vilnius konnte einspringen, parallel zur Hauptkette Riga-Vilnius.

Natürlich hatte Moskau die Demonstration untersagt. Doch um exakt 19 Uhr entrollten viele Menschen auf dem Baltischen Weg ihre verbotenen Nationalfahnen. Die Menschenkette begann "Freiheit!" zu rufen; und Radiosender in allen drei Ländern spielten das eigens komponierte Lied "Das Baltikum erwacht: Lettland, Litauen, Estland"; drei Schwestern, die am Meeresufer aufwachen, um ihre Ehre zu verteidigen. Für genau 15 Minuten verband die längste Menschenkette der Geschichte die drei Hauptstädte.

Die Vaterlandsliebe siegte

Hymnen und Lieder haben den Letten, den Esten und den Litauern über die Jahrhunderte wechselnder Fremdherrschaften ihre nationale Identität bewahrt. In Lettland soll es sogar mehr Lieder ("dainas") als Menschen geben. Diese gemeinsame Seele, Kultur und Sprache konnten den Balten Russen, Nazis, Sowjets als Einziges nicht wegnehmen. Im Gegenteil: Mit ihrem Gesang begann auch jene Revolution, die am Ende die Sowjetherrschaft zu Fall brachte.

Seit 150 Jahren, seit Juni 1869, gibt es die estnischen Sängerfeste, damals noch unter der Herrschaft des zaristischen Russland. Damals ging es darum, das Erwachen des estnischen Nationalgefühls zu fördern. Der widerständige Charakter der Sängerfeste blieb auch in sowjetischer Zeit unterschwellig bestehen. Beim Sängerfest im Juni 1988 brach er sich Bahn - die Perestroika war schon im Gange. Die verbotenen Hymnen der Esten wurden in den Städten trotzig gesungen; in Tallinn strömten Abend für Abend Tausende auf dem "Liederplatz" zusammen. Letten und Litauer folgten. Die Vaterlandsliebe siegte.

Singende Revolution

Singende Revolution, Baltischer Weg - in allen drei Ländern spürte man: Wir haben keine Angst mehr - wir schaffen das! Natürlich: Es wurde noch einige Male eng, zuletzt im Januar 1991, als die Sowjets noch einmal versuchten, das Rad zurückzudrehen. Doch im Herbst 1991 erlangen die drei baltischen Länder ihre Unabhängigkeit. Später werden sie Mitgliedstaaten der EU und der Nato.

Als Riga 2014 Kulturhauptstadt Europas wurde, zitierte es nach 25 Jahren noch einmal den Baltischen Weg von 1989: Zur Einweihung der neuen Nationalbibliothek am Ufer der Düna bildeten die Bürger der Stadt eine Menschenkette von zweieinhalb Kilometern Länge, um ihre Bücher aus der Vergangenheit in die Zukunft zu tragen.


Ein Teil der mehr als 600 Kilometer langen Menschenkette "Baltischer Weg", hier in Vilnius / © A. Sabaliauskas (dpa)
Ein Teil der mehr als 600 Kilometer langen Menschenkette "Baltischer Weg", hier in Vilnius / © A. Sabaliauskas ( dpa )

Die Skulptur "Freiheitsweg" Vilnius symbolisiert die lebende Menschenkette "Baltischer Weg" / © aquatarkus (shutterstock)
Die Skulptur "Freiheitsweg" Vilnius symbolisiert die lebende Menschenkette "Baltischer Weg" / © aquatarkus ( shutterstock )
Quelle:
KNA