Klagewelle erschüttert US-Pfadfinder

Berichte über Missbrauch im Zeltlager

Tausende Führungskräfte der amerikanischen Pfadfinder sollen Kinder und Jugendliche über Jahrzehnte missbraucht haben. Ein Anwaltsnetzwerk will die Täter nun zur Rechenschaft zu ziehen.

Autor/in:
Thomas Spang
Pfadfinder aus den USA  / © Jean-Pierre Pouteau (KNA)
Pfadfinder aus den USA / © Jean-Pierre Pouteau ( KNA )

Der "Fall S.D." liest sich wie eine endlose Leidensgeschichte. Sie dauerte Jahre und begann, als S.D., dessen voller Name geschützt werden soll, 13 Jahre alt war. Vielleicht auch erst zwölf, so genau weiß das der heute 57-Jährige nicht mehr.

Was S.D. dagegen nach eigenen Angaben nicht vergessen kann: Wie er in den 1970er Jahren Hunderte Male von seinem damaligen Pfadfinder-Führer im Camp Acahela in Pennsylvania sexuell missbraucht wurde. Vor den Übergriffen habe ihm sein Peiniger reichlich Drogen und Alkohol verabreicht, um ihn gefügig zu machen. So steht es in der Anklageschrift, die vor einigen Tagen in Philadelphia eingereicht wurde.

Hohe mediale Aufmerksamkeit

Ob "Washington Post", "New York Times" oder CNN: Die US-Medien widmen dem "Fall S.D." höchste Aufmerksamkeit. Und nicht nur diesem. Fast 800 ehemalige Pfadfinder beschreiten derzeit mit Hilfe eines Netzwerks von Anwaltskanzleien den Rechtsweg.

Der landesweit operierende Anwalts-Verbund will bislang unbekannte, verheimlichte Missbrauchsfälle in den Reihen der Boy Scouts of America (BSA) ans Tageslicht bringen. Dafür versucht er, Missbrauchsopfer über TV-Spots dazu zu bewegen, sich mit bisher verschwiegenen Informationen an das Netzwerk zu wenden.

Die Klagewelle gerät damit zu einem Frontalangriff auf die mit 2,7 Millionen Mitgliedern größte Jugendorganisation der USA. Diese hatte bei Expertin Janet Warren von der University of Virginia eine interne Prüfung in Auftrag gegeben. Demnach identifizierte die Organisation exakt 7.819 Täter, die 12.254 Opfer missbraucht haben sollen - zwischen 1946 und 2016.

120 zusätzliche Berichte mit konkreten Vorwürfen von Missbrauch

Die BSA seien nicht weniger als "der größte Pädophilen-Ring der Welt", sagt Opferanwalt Tim Kosnoff. Er habe Tausende Dateien zu Missbrauchsvorwürfen gesichtet und sei schlichtweg schockiert. Die BSA hätten "jahrzehntelang gewusst, dass Sextäter die Pfadfinder infiltriert haben".

Unter dem Druck der drohenden Klagen teilte die Jugendorganisation mit Sitz in Texas unlängst mit, sie habe 120 zusätzliche Berichte mit konkreten Missbrauchsvorwürfen an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet. Gesucht würden nun Akten auf lokaler Ebene, um Informationen über "mutmaßliche weitere Täter" zu bekommen.

Bei ihren eigenen Nachforschungen hinkt die Pfadfinder-Organisation dem Tempo der Enthüllungen hinterher. Bereits 2012 hatte die "Los Angeles Times" Hunderte Namen Beschuldigter öffentlich gemacht, die nicht auf der "Schwarzen Liste" der BSA standen. Sie wurden weder den Behörden gemeldet noch erhielten die Eltern der mutmaßlichen Opfer irgendwelche Informationen.

Existenzgefährdende Katastrophe

Neben dem Ansehensverlust ist der sich ausweitende Missbrauchsskandal für die mehr als 100 Jahre alte BSA eine existenzgefährdende Katastrophe. Die Organisation steht angesichts massenhafter Schadenersatz-Klagen vor dem Bankrott. Die drohende Zahlungsunfähigkeit kommt zeitgleich mit politischen Bestrebungen, Verjährungsfristen heraufzusetzen: So sollen Opfer von Missbrauchstaten länger als bislang Gelegenheit bekommen, Rechtsmittel einzulegen. Fast 20 US-Bundesstaaten wollen entsprechende Gesetze verabschieden.

Die neue Klagewelle stellt auch für die katholische Kirche in den USA ein Problem dar. Nach Mormonen und Methodisten stellen Katholiken mit rund zehn Prozent die drittgrößte Zahl an Mitgliedern des Pfadfinder-Zusammenschlusses. Die Verbindungen der US-Pfadfinder zur US-Bischofskonferenz haben eine lange Tradition. Mit ihrem "National Catholic Committee on Scouting" unterhält die Kirche seit 1934 eigens eine Organisation, die diese Kontakte vertiefen und ausbauen soll.

Bei einem Bankrott der BSA wären Schadenersatzklagen indes schwierig durchzusetzen. Opferanwalt Kosnoff ficht das nicht an. Er wolle das ganze Ausmaß des unbekannten, verdeckten oder verheimlichten Missbrauchs bei den US-Pfadfindern enthüllen: Die Täter, so sagt er, seien "die wahren verborgenen Raubtiere in unseren Gemeinden".


Quelle:
KNA