Jeden Ostermontag pilgert Neapel zur Madonna dell'Arco

Audienz bei der Muttergottes

Seit fünf Jahrhunderten geht für Tausende Neapolitaner der Osterausflug zu einem Marienbildnis in einem Dorf am Vesuv. Sie verehren in der Madonna eine Frau, die geschunden ist wie sie selbst.

Autor/in:
Burkhard Jürgens
Frauen halten ihre Hände und Taschentücher an eine Grabplatte im Santuario di Madonna dell'Arco / © Adelaide Di Nunzio (KNA)
Frauen halten ihre Hände und Taschentücher an eine Grabplatte im Santuario di Madonna dell'Arco / © Adelaide Di Nunzio ( KNA )

Der fast noch volle Mond steht über Sant'Anastasia, und die Kühle einer Frühlingsnacht liegt in den Straßen. Das Dorf schläft nicht. Seit dem späten Abend ziehen unentwegt weißgekleidete Pilger in den Ort und vor die Kirche. Wenn die Turmuhr drei schlägt und das Portal sich öffnet, steigen Applaus und Pfiffe aus der Menge auf. Zu Tausenden warten sie auf die Audienz bei der wundertätigen Madonna dell'Arco.

Alljährlich zu Ostermontag wird Sant'Anastasia am Hang des Vesuv das katholische Zentrum der Region. Gebürtige Neapolitaner aus allen Teilen Italiens, selbst Auswanderer aus dem fernen Amerika kehren eigens zu diesem Anlass zurück. Vor allem aber in Neapel und den umliegenden Orten gehen unzählige fromme Vereinigungen auf Pilgerfahrt.

Wallfahrt ist Arbeit

Das Ereignis findet seinen Auftakt am Ostersonntag, wenn die oft meterhohen brokatbestickten Fahnen der Quartiersvereine und Bruderschaften durch die Gassen Neapels getragen werden. Den Tag über machen die Gruppen in festlich-weißen Hemden und Hosen den Madonnenbildern an Fassaden und Hausecken ihre Aufwartung, ehren die Muttergottes in einem eigenen Ritual mit Neigen und Schwenken des Banners.

Wann man sich schließlich auf den Weg zur Madonna dell'Arco macht, entscheidet nicht zuletzt der Ehrgeiz, unter den ersten zu sein: "Seit ein Uhr nachts sind wir unterwegs", sagt Giuseppe Lo Sapio, Familienvater aus Marigliano, zehn Kilometer nördlich von Sant'Anastasia. Inzwischen ist es nach fünf. Vor der Kirche herrscht Stau.

"Fujenti" oder "battenti" nennt man die Pilger im neapolitanischen Dialekt; beides verweist auf den Brauch, zumindest die letzten Meter zu der kleinen Basilika im Laufschritt zurückzulegen. Doch auf der Dorfpromenade ist Schluss. Hier heißt es stehen und warten. Lo Sapio, nach eigenen Angaben seit dem ersten Lebensjahr mit dabei, verteidigt jeden Fußbreit: hält seine Leute zusammen, verhandelt mit Ordnern, schimpft über Drängler. Wallfahrt "ist Arbeit", sagt er. Das Frühstück muss warten, die fromme Pflicht geht vor.

Vom Ball getroffen

Angefangen hatte alles mit einem Osterpicknick im Jahr 1450. Auch damals zogen Familien hinaus ins Grüne zu dem Marienbildnis, das sich an einer Mauer unter einem Lindenbaum befand. Einige Burschen, so die Legende, spielten eine Art Baseball. Der Wurf einer Mannschaft ging fehl, und der erzürnte Verlierer schleuderte den Ball auf die Madonna. Ihre Wange begann zu bluten, Aufruhr folgte. Man knüpfte den Frevler kurzerhand an der Linde auf, die über Nacht verdorrte.

Ein Fest, das in Gewalt kippt, die Freveltat am Segensbild, die Madonna mit den schillernden Zügen der leidenden Mutter, rächenden Göttin, geschundenen Frau - keine Frage, dass die Volksseele in diesem Motivbündel Nahrung fand. Die Madonna dell'Arco selbst passt zu den einfachen Leuten: Sie ist keine überweltliche Schönheit, mit ihrer etwas breiten Nase und den schweren Lidern – und der dicken Backe.

"Früher lief man das letzte Stück barfuß"

Aber sie hat geholfen, die Madonna: 1631 vor der Lava des Vesuv, später vor der Pest und unzählige Male in privaten Nöten. Davon zeugen die Votivgaben im Heiligtum, ein Arsenal von aus Blech gestanzten Gliedmaßen und teils anrührenden Bildern. Jedes steht für eine wundersame Heilung, ein erhörtes Gebet.

Inzwischen ist das religiöse Fest zum Event geworden. Eine Kirmes begleitet die Wallfahrt, viele zieht mehr die Folklore an, als dass Frömmigkeit sie treibt. Auch bei den Pilgern geht es nicht mehr so diszipliniert zu. "Früher lief man das letzte Stück barfuß", sagt Lo Sapio. Heute reisen etliche mit dem Bus an und ziehen die Schuhe erst vor der Kirche aus. Und überhaupt: "Zu viele Leute", klagt Lo Sapio, noch immer auf Einlass wartend. Es wird geflucht, geschoben, getrickst.

Tradition am Scheideweg

Eine Tradition am Scheideweg - so sieht es Antonella aus Mugnano di Napoli. Sie ist in der Tradition der "battenti" großgeworden, findet inzwischen in den Vereinen aber zu viel Zurschaustellung und Scheinfrömmigkeit. "Deshalb habe ich mich da rausgezogen", sagt die 53-Jährige. Dennoch besucht sie weiter ihre Madonna, eine "battente in Zivil". Ihren mittlerweile erwachsenen Kindern hat sie diesen Brauch weitergegeben – aller Ernüchterung zum Trotz.

An der Kirchenschwelle löst sich die aufgestaute Spannung. Auf Knien rutschen die Pilger dem Gnadenbild entgegen, das über dem Altar thront. Manchen steht Erschöpfung ins Gesicht geschrieben, anderen Ergriffenheit. Jetzt ist für jeden der Moment, der Madonna zu sagen, wofür er dankt, was er erhofft oder fürchtet. Einzelne beginnen zu singen, ein Ave Maria oder eine persönliche Klage.

"Für die Krise disponiert"

"Madonna, meine Kinder sollen nicht zu Taugenichtsen werden", fleht eine Frau. Ein langgezogener Gesang ist es, durchdringend, die Stimme wie Metall, aus Leibestiefe. Etwas bricht sich Bahn. Manchen vergehen buchstäblich die Sinne. Im Minutentakt kippt jemand um. Das Geräusch der fallenden Körper - ein kurzes Rauschen, ein dumpfer Schlag. Dann klatscht ein Ordner zweimal in die Hände. Es ist das Signal an die Sanitäter: Hier gibt es Arbeit.

Rund 70 Einsätze verzeichnet das Lazarettzelt neben der Basilika bis neun Uhr. Über den Tag wird es ein Vielfaches sein. Zumeist Bagatellen: Flüssigkeitsmangel, Unterzuckerung, Blutdruckprobleme. Hat die Leute ein religiöses Erlebnis umgeworfen? Ist es gespielte Ekstase? Die diensthabende Ärztin Filomena Oratino geht zumindest davon aus, dass ihre Patienten "für die Krise disponiert" waren.

Strom der Beter

Es wird Mittag, und der Andrang lässt nicht nach. Die Dorfstraße hoch und runter schwitzt das Volk unter der Frühlingssonne, schiebt sich meterweise vorwärts. Vereine mit prachtvollen Tragaltären sind hinzugekommen, begleitet von Musikkapellen. Alles nur, "um vor der Madonna zu beten, für die Familie, die Gesundheit, die jungen Leute ohne Arbeit", sagt Carmine Garnieri aus Neapels Stadtteil Traiano. 87 Jahre hat er auf den Schultern; er trägt sie stolz wie die Schärpe der "battenti" seines Viertels, denen er seit 42 Jahren als Präsident vorsteht.

Für die Wallfahrtskirche bedeutet der Ostermontag auch finanziellen Segen. Traditionell leisten die Vereinigungen eine Spende – bei den größeren geht die Summe leicht über 10.000 Euro hinaus. Der protzige Brauch, Banknoten an die Vereinsfahne zu heften, ist inzwischen verboten. Dafür sitzen im Pilgerbüro Patres und Ordensfrauen an einer Theke hinter dicken Kladden und notieren die Zuwendungen und Messstipendien. Seite um Seite füllt sich.

Vielen Pilgern ist wichtiger, was sie an aufgesparten Kümmernissen und Hoffnungen bei der Madonna loswerden dürfen. Nach Stunden hat auch Giuseppe Lo Sapio es geschafft und raucht im Kreuzgang eine Beruhigungszigarette. Ein gestandener Mann mit tränenfeuchten Augen. "Irgendetwas fasst dich an, wenn du die Kirche betrittst", sagt er. Was er der Muttergottes zu berichten hatte, ist allein für sie bestimmt. Eine, die die rauen Seiten Neapels kennengelernt hat.

 

Figur der Muttergottes mit Jesuskind in einer Prozession zur Madonna dell'Arco / © Adelaide Di Nunzio (KNA)
Figur der Muttergottes mit Jesuskind in einer Prozession zur Madonna dell'Arco / © Adelaide Di Nunzio ( KNA )

 

Ein Mann mit Schärpe während der Prozession / © Adelaide Di Nunzio (KNA)
Ein Mann mit Schärpe während der Prozession / © Adelaide Di Nunzio ( KNA )

 

In weiß gekleidete Kinder und Jugendliche mit Brokat bestickten Bannern / © Adelaide Di Nunzio (KNA)
In weiß gekleidete Kinder und Jugendliche mit Brokat bestickten Bannern / © Adelaide Di Nunzio ( KNA )
Quelle:
KNA
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