Religionssoziologe Lunkin zur Krise der orthodoxen Kirche

"Das Schisma ist bereits Wirklichkeit"

Der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios I., hat am Wochenende die neue ukrainisch-orthodoxe Kirche offiziell anerkannt. Welche Risiken und Chancen ergeben sich aus der orthodoxen Kirchenkrise?

Autor/in:
Philipp Mattheis
Licht strahlt durch ein Fenster in die ukrainisch-orthodoxe Kathedrale Wladimir des Kiewer Patriarchats / © Andrey Lomakin (KNA)
Licht strahlt durch ein Fenster in die ukrainisch-orthodoxe Kathedrale Wladimir des Kiewer Patriarchats / © Andrey Lomakin ( KNA )

KNA: Herr Lunkin, wie wichtig ist die Ukraine für die russisch-orthodoxe Kirche?

Roman Lunkin (Direktor des Zentrums für Religionswissenschaften des Europainstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften): Die russische Kirche ist mit der Ukraine durch die gemeinsame kirchliche und ethnische Geschichte verbunden. Ihr Kirchenzentrum lag die Hälfte der russischen Geschichte in Kiew. Ein erheblicher Teil ihrer Pfarreien und Gläubigen und vielleicht der aktivste Teil der russisch-orthodoxen Kirche befindet sich in der Ukraine. Dort hat sie mehr als 12.000 Pfarreien, in Russland sind es 16.000. Auf politischem Feld ist die Ukraine für die russische Kirche ein Kernland der früheren russischen Welt. Der Verlust der Ukraine schwächt die russische Kirche.

KNA: Welche Strategie ist für den Moskauer Patriarchen Kyrill I. am besten geeignet, um den Verlust ukrainischer Gläubiger und Geistlicher abzuwenden?

Lunkin: Der Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios I, hat den Erlass über die kirchliche Eigenständigkeit der vor drei Wochen gegründeten ukrainischen Kirche unterzeichnet. Der russische Patriarch kann jetzt beten und hoffen, dass der Geist der Kleriker der ukrainischen Kirche des Moskauer Patriarchats standhaft ist und sie nicht in die neue unabhängige Kirche wechseln.

Patriarch Kyrill I. ist erstens zu empfehlen, dass er keinen Grund für die Aussage liefert, dass sich das Moskauer Patriarchat in die inneren Angelegenheiten der ukrainischen Orthodoxie einmischt – auf irgendeiner Seite und irgendeiner Ebene. Zweitens sollte er nicht die Parolen der offiziellen Außenpolitik und der Medienkampagnen Russlands nachsprechen. Drittens sollte der Patriarch in Russland für die Kirchen in den Nachbarländern ein gutes Vorbild sein bei der Missions- und Sozialarbeit.

KNA: Will die russische Kirche die Führungsrolle in der orthodoxen Kirche vom Ökumenischen Patriarchat übernehmen?

Lunkin: Ich nehme an, es gibt ein paar Ambitionen in der Leitung der russischen Kirche, ein eigenes alternatives System von Pfarreien und Diözesen in der Welt aufzubauen. Aber es ist unmöglich, so stark wie die katholische Kirche zu werden. Und es gibt keine historische Begründung dafür, dass Moskau so wie Konstantinopel andere orthodoxe Kirchen koordiniert.

KNA: Ist ein orthodoxes Schisma, also eine Spaltung, eine echte Option für die russisch-orthodoxe Kirche?

Lunkin: Die einfache Antwort ist: ja, weil das Schisma bereits Wirklichkeit ist.

KNA: Welche Vorteile kann die russische Kirche aus einem orthodoxen Schisma ziehen?

Lunkin: Es gibt zwei Möglichkeiten, Vorteile aus einem Schisma zu ziehen. Zum einen kann es in der politischen Situation, der russisch-ukrainischen Krise, nützlich sein. Zum anderen wird dadurch die Haltung der ukrainischen Regierung gegenüber der Kirche beeinflusst. Die russische Kirche muss sich auf die russische Gesellschaft konzentrieren. Die ist weniger religiös als die ukrainische oder die moldauische. Und am wichtigsten heute: Die russische Kirche muss sich um die Republik Moldau und Weißrussland kümmern.

KNA: Was ist das schlimmste denkbare Szenario für den Moskauer Patriarchen im Kampf um die Ukraine?

Lunkin: Die schwere Spaltung der ukrainischen Kirche. Dass ihr Hauptteil zur unabhängigen Kirche von Präsident Poroschenko geht und nur einige Pfarreien und wenige Klöster dem Moskauer Patriarchen treu bleiben. Das kann eine Kettenreaktion auslösen: Der Riss in der Republik Moldau vertieft sich. Das rumänische Patriarchat hat dort bereits ein Bistum gegründet. Und dem weißrussischen Präsidenten Lukaschenko oder seinem Nachfolger könnte die Idee einer unabhängigen Kirche gefallen.

Das Ergebnis wäre eine Krise der russischen Kirche. Das kann dann zu einer demokratischen Kirchenreform führen, durch die Patriarch Kyrill I. persönliche Macht verliert. Abgesetzt werden kann er nicht.

Das Interview führte Oliver Hinz.


Bartholomaios I. mit einem Mikrofon in der Hand / © Sascha Baumann (KNA)
Bartholomaios I. mit einem Mikrofon in der Hand / © Sascha Baumann ( KNA )

Kyrill I., Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche / © Sergey Vlasov (KNA)
Kyrill I., Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche / © Sergey Vlasov ( KNA )
Quelle:
KNA