Fast 30 Jahre nach Kriegsende noch immer Vermisste

Wo sind El Salvadors verschwundene Kinder?

Im salvadorianischen Bürgerkrieg in den 80er Jahren entrissen Militärs der eigenen Bevölkerung ihre Kinder. Von mehreren hundert fehlt bis heute jede Spur. Die Organisation Pro-Busqueda ist weiter auf der Suche.

Autor/in:
Michael Althaus
Verschwundene Kinder / © Elisabeth Rahe (KNA)
Verschwundene Kinder / © Elisabeth Rahe ( KNA )

Heute müssten Erlinda und Ernestina Serrano Cruz 39 und 43 Jahre alt sein. Ob sie noch leben, weiß die Familie nicht. Auch nicht, wie sie aussehen oder wo sie sich aufhalten. Nur die Erinnerung an sie ist noch wach - zumindest in Gedanken ihrer beiden älteren Geschwister Suyapa (56) und Jose Fernando (45). Erlinda und Ernestina sind zwei von El Salvadors verschwundenen Kindern. In dem mittelamerikanischen Land tobte zwischen 1980 und 1991 ein blutiger Bürgerkrieg, in dem Militärs Hunderte Kinder ihren Familien entrissen und verschleppten. Von vielen fehlt bis heute jede Spur.

Suyapa Serrano Cruz erinnert sich noch genau an die Ereignisse von damals: "Es war da drüben, wo sie verschwanden", sagt sie und zeigt auf eine Stelle am Ufer des Rio Sumpul nahe der Siedlung Chalatenango im Norden des Landes. Langsam schlängelt sich der breite Fluss durch das Tal inmitten einer grünen Berglandschaft. 1982 machten die Truppen der Militärregierung hier Jagd auf Aufständische.

Aufstände der Bauern

Wegen sozialer Ungerechtigkeiten lehnten sich die Bauern gegen die Herrschenden auf. Die Soldaten brannten ganze Dörfer nieder, verfolgten und töteten die Bewohner. Auch Familie Serrano Cruz aus Chalatenango war auf der Flucht. In den Wirren verschwanden die damals drei und sieben Jahre alten Mädchen. Alles spricht dafür, dass Soldaten die beiden Kinder mitgenommen haben.

"Verschwindenlassen war eine Strategie, um die eigene Bevölkerung zu schwächen", erklärt Jose Lazo Romero, Mitarbeiter der Organisation Pro-Busqueda. Die Kinder seien oft gegen beträchtliche Geldsummen an Waisenheime oder Pflegefamilien verkauft worden, viele auch ins Ausland. Pro-Busqueda wurde 1994 von Familienangehörigen und einem Jesuitenpater gegründet, um die Fälle zu dokumentieren.

Organisation sucht nach Vermissten

Die von dem katholischen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützte Nichtregierungsorganisation bietet Opfern und Betroffenen Unterstützung an und hilft bei der Suche nach den Vermissten. "Wir kämpfen gegen die Zeit", sagt Romero. Viele Mütter und Väter der Verschwundenen sterben allmählich. 443 Fälle hat der Verein aufgeklärt, rund 500 sind noch offen. "Allerdings ist unser Staat weder an dem Phänomen noch an Aufklärung interessiert", klagt Romero.

Das musste auch Familie Serrano Cruz erfahren. Sie klagte vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte und bekam 2005 Recht. Das Gericht sah den Staat El Salvador, der auch heute noch zu den gefährlichsten Ländern der Welt zählt, als verantwortlich für das Verschwinden der Mädchen an und erlegte der Regierung Aufklärung des Falls auf. Das ist bis heute nicht geschehen. Im Gegenteil: Die Regierung verweigert die Herausgabe von Unterlagen zu der damaligen Militäroperation, in denen sich möglicherweise Hinweise finden könnten.

Regierung stellt sich quer

Mehr Glück hatte Magdalena Emperatriz Melendez. Die 36-Jährige ist eines der 443 "wiedergefundenen Kinder". Wie sie herausfand, war sie offenbar nur wenige Tage alt, als sie verschleppt wurde. Sie wuchs in einem SOS-Kinderdorf in El Salvador auf. Trotz Verbots begab sie sich im Jugendalter auf die Suche nach ihren leiblichen Eltern - und wurde fündig.

Ihre Mutter war zwar im Bürgerkrieg gestorben. Doch ihren Vater und weitere Angehörige traf sie 2013 wieder. Einerseits eine große Erleichterung - aber andererseits auch eine befremdliche Begegnung: "Ich kannte diese Menschen gar nicht. Ich konnte bis heute keine emotionale Beziehung zu ihnen aufbauen", erzählt Melendez. Was es bedeutet, eine eigene Familie zu haben, erfuhr sie erst, als sie vor
13 Jahren selbst Mutter wurde: "Als ich mein erstes Kind im Arm hatte, da spürte ich, was sie mir weggenommen hatten", sagt sie und weint.

Auch wenn die Wunden bleiben - Melendez führt heute ein normales Leben in der Hauptstadt San Salvador. Für die Geschwister Serrano Cruz heißt es dagegen weitersuchen und bangen. "Wir haben nach wie vor Hoffnung, dass wir die Mädchen noch finden", sagt Jose Fernando Serrano. Und seine Schwester Suyapa ergänzt: "Wir spüren, dass sie noch leben."


Quelle:
KNA