Historiker Martin Aust zu 100 Jahre polnischer Unabhängigkeit

"Wer war schon vorbereitet auf das, was 1917/18 geschah?"

Vor 100 Jahren erlangte Polen seine Unabhängigkeit wieder – 123 Jahre, nachdem Preußen, Russland und Österreich das Land unter sich aufgeteilt hatten. Im Interview äußert sich Osteuropa-Historiker Martin Aust zu den historischen Hintergründen.

 (DR)

KNA: Herr Aust, alle drei Teilungsmächte Polens gingen aus dem Ersten Weltkrieg als Verlierer hervor. Ein zweifellos günstiger Moment für die Wiedererlangung der Unabhängigkeit. Aber waren die Polen darauf überhaupt vorbereitet?

Martin Aust (Osteuropa-Historiker) : Wer war schon vorbereitet auf das, was 1917/18 in Ost- und Mitteleuropa geschah: das Ende der Monarchie in Deutschland und Österreich-Ungarn, die Revolution in Russland? Andererseits gab es durchaus Erwartungen an den weiteren Verlauf der Dinge.

KNA: Will heißen?

Aust: Schon zu Kriegsbeginn hatten polnische Politiker und Militärs wie Jozef Pilsudski ein Gefühl, wonach das alles interessant für die Wiederauferstehung Polens sein könnte. Aber dass gleich alle drei Teilungsmächte, also Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland, 1918 als Verlierer dastehen würden, hatte sicher niemand auf dem Zettel.

KNA: Welche Rolle spielte die katholische Kirche bei der Wiedererlangung der Unabhängigkeit?

Aust: Eine sehr große - schon allein weil die Kirche als einzige Institution auch während der Teilung in allen polnischen Gebieten präsent war. Letzten Endes hat die Kirche das polnische Nationalbewusstsein wachgehalten.

KNA: Was war Pilsudski für ein Mensch?

Aust: Er gehörte der Polnischen Sozialistischen Partei PPS an, die schon im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht nur sozialrevolutionäre Ziele verfolgte, sondern auch einen starken nationalen Akzent setzte.

KNA: Pilsudski war auch Soldat, seit 1920 als Marschall ranghöchster Militär Polens.

Aust: Zum Mythos Pilsudski gehört selbstverständlich auch diese Seite. Im Habsburgerreich stellte er die Polnischen Legionen auf und soll 1914 an vorderster Front die ersten siegreichen Gefechte gegen die Russen geführt haben.

KNA: In den nachfolgenden Kriegsjahren geriet er in Konflikt mit dem Deutschen Reich, verweigerte den Eid auf den Kaiser und saß anschließend in Festungshaft in Magdeburg.

Aust: Von wo aus ihn der Diplomat Harry Graf Kessler dann nach Berlin und anschließend nach Warschau geleitete - weil man in Pilsudski angesichts der Umwälzungen in Polen wie in Deutschland einen berechenbaren Partner vermutete.

KNA: Wie entwickelten sich die Geschicke der jungen polnischen Republik weiter?

Aust: Der Staatsstreich von 1926 konzentrierte alle Macht bei Pilsudski. Eine autoritäres Regime ging daraus hervor, das allerdings nicht zu vergleichen ist mit dem der Bolschewiki in Russland oder dem der Nationalsozialisten in Deutschland. Wenn man nach den Gründen des Scheiterns für die Zweite Polnische Republik fragt, dann findet man die Antworten nicht in diesem Datum, sondern beim 1939 abgeschlossenen Hitler-Stalin-Pakt und den fortdauernden Aggressionen Deutschlands und der Sowjetunion, die schließlich in den deutschen Überfall auf Polen und den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mündeten.

KNA: Autoritäre Züge trägt auch die aktuelle polnische Politik.

Aust: Man sollte sich aber hüten, Parallelen zur Geschichte zu ziehen. Eine starke Polarisierung und Emotionalisierung, verbunden mit einem Rechtsruck, ist ein in der Gegenwart entstandenes globales Phänomen; siehe die USA, Brasilien oder die Türkei.

KNA: Wie begeht Polen die Erinnerung an den 100. Jahrestag?

Aust: Mit einem großen politischen und kulturellen Programm. Das Geschehen ist im kollektiven Gedächtnis immer noch sehr präsent und meiner Einschätzung nach weit weniger Gegenstand von erinnerungspolitischen Debatten als das, was danach kam; also der Zweite Weltkrieg, die Volksrepublik Polen und der demokratische Wandel 1988/89.

Das Interview führte Joachim Heinz.


Martin Aust / © Harald Oppitz (KNA)
Martin Aust / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
KNA