Erster Obdachloser aufgrund neuen Gesetzes in Ungarn vor Gericht

Wenn Wohnungslosigkeit zum Delikt wird

Seit Mitte Oktober sind Obdachlose in Budapest von öffentlichen Plätzen nahezu verschwunden. Grund ist ein neues Gesetz, das das Leben auf der Straße kriminalisiert. Ein Obdachloser stand bereits vor Gericht. Kirchenvertreter sind entsetzt.

Autor/in:
Ferenc Kelle und Inga Kilian
Obdachloser in Budapest / © Attila Balazs (dpa)
Obdachloser in Budapest / © Attila Balazs ( dpa )

Seit dieser Woche gilt in Ungarn ein Gesetz, das das Leben auf der Straße kriminalisiert - der erste Obdachlose wurde bereits vor Gericht gestellt. Polizisten nahmen den wohnungslosen Mann örtlichen Medienberichten zufolge in der Kleinstadt Gödöllö nahe Budapest fest, nachdem dieser sich geweigert hatte, ein Obdachlosenheim aufzusuchen. Das zuständige Gericht sprach eine Verwarnung aus.

Scharfe internationale Kritik

Das Gesetz sieht vor, dass ein Obdachloser, der im öffentlichen Raum angetroffen wird, von der Polizei verwarnt und aufgefordert wird, diesen zu verlassen. Kommt es zu drei Verwarnungen innerhalb von 90 Tagen, wird ein Verfahren eingeleitet. Der Wohnungslose wird binnen 72 Stunden einem Richter vorgeführt. Dieser kann ihn zur Verrichtung gemeinnütziger Arbeit oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilen. International gab es scharfe Kritik an dem Vorgehen Ungarns.

Nach Angaben des Staatssekretärs im Innenministerium, Karoly Kontrat, sollen durch das Gesetz Sozialleistungen für Obdachlose besser organisiert werden. Betroffene sollten ermutigt werden, die verfügbaren Unterkünfte zu nutzen. Ziel sei zudem, die öffentliche Sicherheit zu erhalten und für einen gepflegten öffentlichen Raum zu sorgen.

Zehntausende Menschen in Ungarn leben auf der Straße. Schätzungen schwanken zwischen 20.000 und 50.000 Personen. Dem gegenüber stehen etwa 11.000 Betten in staatlichen Notunterkünften. Laut Medienberichten wurden Obdachlose etwa in Budapest zuletzt von den Behörden direkt angesprochen und über die neue Gesetzeslage informiert. Ein Großteil der Menschen halte sich zwar weiter in der Innenstadt auf, meide aber neuralgische Punkte wie Unterführungen, hieß es.

Leben auf der Straße als Ordnungswidrigkeit

In der ungarischen Öffentlichkeit wird seit geraumer Zeit über das Thema Obdachlosigkeit diskutiert. Dabei geht es etwa um die Frage, wie deren Zahl mittels der nationalen Gesetzgebung reduziert werden kann - unter Achtung der Rechte der Bürger auf ein gepflegtes Lebensumfeld und ohne die Rechte der Obdachlosen zu verletzen.

Bereits im Juli beschloss das ungarische Parlament mit 132 Ja-Stimmen und 54 Gegenstimmen eine Gesetzesänderung über die Ordnungswidrigkeitsverfahren. Darin wird die Regelung zu Obdachlosen aus dem Jahr 2013 verschärft und das Leben auf der Straße als Ordnungswidrigkeit definiert - am Montag trat die Änderung in Kraft.

Einen Tag zuvor demonstrierten vor dem Parlamentsgebäude in Budapest Menschenrechtsaktivisten gegen das Gesetz. Unter dem Motto "egy mondat" ("ein Satz") forderten sie ungarische Schriftsteller, Dichter und Komponisten auf, in einem Satz auf das Gesetz zu reagieren.

Kirchenvertreter entsetzt

Auch international gab es scharfe Kritik. Amnesty International betonte, das Gesetz werde "ernsthafte und dramatische Konsequenzen für Menschen haben, die sich ohnehin schon in einer extrem prekären Situation befinden". Die Vereinten Nationen bezeichneten das Vorgehen Ungarn als "grausam und unvereinbar mit den internationalen Menschenrechten".

Die Obdachlosen hätten kein Verbrechen begangen, sondern versuchten nur, zu überleben. Bereits im September hatte das EU-Parlament wegen des Vorwurfs der Verletzung von EU-Grundwerten ein Strafverfahren gegen Ungarn eingeleitet. Zur Begründung wird auch der Umgang der dortigen Behörden mit Obdachlosen genannt.

Entsetzt äußerte sich auch der Leiter des ungarischen Zweigs der katholischen Gemeinschaft Sant'Egidio, Peter Szöke. Nicht einmal im Mittelalter habe man Mittellose so "drastisch bestraft", wird Szöke in der aktuellen Ausgabe der katholischen Wochenzeitung "Magyar Kurir" zitiert. Das Vorgehen des Staates werfe schwerwiegende Fragen auf und sei angesichts der ungarischen Verfassung "ganz und gar" unverständlich. Darin heiße es: "Wir bekennen uns zur Pflicht, den Armen und Hilfsbedürftigen zu helfen."

Die ungarische Regierung trete für "Recht und Ordnung" ein, so Szöke weiter. Den Preis dafür zahlten aber immer die Schwächsten. Ordnung bedeute für die Regierung nichts anderes als, "die Armen fernzuhalten, um sie nicht sehen zu müssen". "Vor den Flüchtlingen schützen Zäune und Mauern. Vor den Obdachlosen und Bettlern schützen Gesetzesordnungen."


Quelle:
KNA