Vor 50 Jahren reiste Paul VI. als erster Papst nach Lateinamerika

"Er kommt zu uns!"

Noch unmittelbar vor seinem Abflug musste Papst Paul VI. die Niederwerfung des "Prager Frühlings" als Rückschritt für die Entwicklung der Völker verurteilen. Sein Besuch in Lateinamerika sollte das genaue Gegenteil sein.

Papst Paul VI. an seinem Schreibtisch / © N.N. (KNA)
Papst Paul VI. an seinem Schreibtisch / © N.N. ( KNA )

Vom Papst wird heute erwartet, dass er reist. Dass er die katholische Weltkirche besucht, sich selbst ein Bild macht. Botschafter, auch politischer, des Evangeliums soll er sein und nicht nur im Vatikan residieren und erwarten, dass der, der etwas vom Papst will, sich gefälligst auch zu ihm nach Rom bewegt – so wie es seit jeher und wie selbstverständlich Usus war.

Ein moderner Papst

Der das grundsätzlich geändert und damit ein ganz neues Kapitel der päpstlichen Verkündigung aufgeschlagen hat, war nicht Johannes Paul II. (1978-2005) mit seinen 104 Auslandsreisen in 127 Länder, der als "Reisepapst" in die Geschichte eingegangen ist. Es war sein Vorgänger, der Konzilspapst Paul VI. (1963-1978).

Giovanni Battista Montini wollte ganz bewusst ein "moderner" (und mobiler) Papst sein, der zu den Menschen geht. Vor 50 Jahren, vom 22. bis 25. August 1968, besuchte er als erster Petrus-Nachfolger Lateinamerika, den katholischen Kontinent.

Äußere Anlässe waren die Eröffnung der zweiten Vollversammlung des Lateinamerikanischen Bischofsrates (CELAM) und der Eucharistische Weltkongress in Bogota, dem Sitz des CELAM. In seinen Reden entfaltete Paul VI. dort – quasi ein Missionar des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) – die Lehren dieser größten Kirchenversammlung des 20. Jahrhunderts sowie sein eigenes Konzept von einer gerechten Entwicklung der Völkergemeinschaft ("Populorum progressio").

Weg von den Mächtigen, hin zu den Armen

Die eigentlichen CELAM-Beratungen fanden anschließend in der kolumbianischen Millionenstadt Medellin statt – ohne Paul VI., aber in seinem ausdrücklichen Auftrag. Die Kirchenführer Lateinamerikas vollzogen dort eine historische Kehrtwende – weg von den Mächtigen und hin zu den Armen des Kontinents.

Der Papst, ein langjähriger Freund des brasilianischen "Armenbischofs" Dom Helder Camara (1909-1999), hatte dazu ein eindeutiges Signal gesetzt. In seiner historischen Predigt in einem Armenviertel von Bogota rief er den begeisterten Besuchern zu: "Ihr seid Christus für uns!"; ihr seid ein Sakrament. Also: In euch begegnet uns Christus persönlich!

Der Effekt dieser Stunden bei den Armen von Bogota, so betont Michael Huhn, Experte beim bischöflichen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat, kann gar nicht groß genug eingeschätzt werden. Die Menschen spürten: Er kommt zu uns! Wir sind es ihm wert – und er ist sich nicht zu schade für uns. Ein radikaler Richtungswechsel für das Papsttum, aber auch für die kirchliche Sozialverkündigung.

In Ohnmacht gefallene Nonnen

Logistisch war das Ganze noch weit von der Professionalität heutiger Papstreisen entfernt. Genüsslich beschreibt der damalige "Spiegel"-Korrespondent von gebrochenen Rippen, in Ohnmacht gefallenen Nonnen; kurz: einem "lebensgefährlichen Taumel" rund um die schwarze Lincoln-Limousine des Papstes bei der Ankunft in Bogota. Um dem Trubel zu entkommen, habe der päpstliche Tross immer mehr beschleunigen müssen und am Ende dabei einen kleinen Jungen verletzt.

Auch wenn man für durchaus glaubhaft halten mag, dass Regierung und Polizei für den hohen Besuch teils Bettler verscheuchten, streunende Kinder einsammelten und wegsperrten; ja dass man sogar, um die auch in Lateinamerika revoltierenden Studenten fernzuhalten, extra die Semesterferien um ein paar Tage verlängerte.

Für ebenso glaubwürdig darf man aber wohl halten, dass Paul VI., wie er selbst im Vorfeld betonte, mit diesen wenigen Stunden und Tagen gleichsam den ganzen Kontinent besuchen wollte.

Nicht "den Mördern des Volkes die Hand drücken"

Es waren ebenso fromme wie brutale Zeiten, auch und gerade in Kolumbien. Und die Anhänger des radikalen, 1966 im Kampf getöteten Priesters Camilo Torres beschworen den Papst, nicht zu kommen, um nicht "den Mördern des Volkes die Hand zu drücken".

Doch die Priorität Pauls VI. war – bei mancher Unzulänglichkeit in Organisation und Protokoll – eine ganz andere: den Völkern Lateinamerikas zu zeigen, dass sie gleichberechtigte Mitglieder der Menschheitsfamilie sind – und keineswegs vergessen. "Paul VI.", sagt Adveniat-Experte Huhn, "war kein Revolutionär – sondern ein Evolutionär." Einer, der auf Bildung als Schlüssel zu nachhaltiger Entwicklung setzte. "Einer wie Papst Franziskus, wenn auch in einer traditionelleren theologischen Sprache."

Bis heute wird der Montini-Papst, anders als in Europa, in Lateinamerika hoch verehrt. Was dem Vatikan und der Kirche Lateinamerikas noch an Auseinandersetzungen um die "Theologie der Befreiung" bevorstanden, konnte Paul VI. damals noch nicht wirklich ahnen.

Von Alexander Brüggemann


Quelle:
KNA