Auftakt des argentinischen Staatsterrorismus in Patagonien

Massaker von Trelew

Man könnte sagen, in Trelew begann Argentiniens Militärdiktatur. Die Erschießung flüchtiger Häftlinge vor 45 Jahren war der Auftakt eines Staatsterrorismus. Und der Staat tut sich bis heute schwer mit dem Gedenken.

Bilder von Opfern der argentinischen Militärdiktatur / © Victor R. Caivano (dpa)
Bilder von Opfern der argentinischen Militärdiktatur / © Victor R. Caivano ( dpa )

Das Tor ist offen. Aber irgendwie sieht das Gelände verlassen aus. Die Fahne mit dem Wappen Chubuts hat der patagonische Wind fast aufgefressen. Zwischen den Ritzen der Betonplatten wächst Steppengras. Kein Licht im Gebäude, kein Auto davor. Es ist kurz vor acht Uhr früh. Das alte Flughafengebäude im nordpatagonischen Trelew ist verschlossen. Der Taxifahrer hatte versichert, dass die Gedenkstätte ab acht Uhr geöffnet sei. Ganz sicher. Nun ist er weg, und die Tür ist zu.

Massaker von Trelew

Man sieht es dem verschlafenen Gebäude nicht an. Doch dort drinnen spielte sich vor 45 Jahren eine Tragödie ab, die als das Massaker von Trelew in die argentinische Geschichte einging. Sie wurde erst Jahrzehnte später auf Drängen der Hinterbliebenen juristisch aufbereitet.

Mitte August 1972. Unter der Führung von Mario Roberto Santucho von der revolutionären Arbeiterpartei gelingt die Flucht aus dem Hochsicherheitsknast in Rawson. Vor dem Gefängnis warten zwei Ford-Pkw. Ausgemacht waren mehr. Sechs der Flüchtigen springen in den ersten Wagen, der sie an den Flughafen nach Trelew bringt. Mit einer gekidnappten Frachtmaschine gelingt ihnen die Flucht nach Chile.

Die anderen 19 haben Pech. Die für sie gedachten Fluchtautos kommen nicht. Sie werden gleich wieder festgenommen und in die Marinebasis Almirante Zar gebracht, wo man sie verhören will. Später werden sie ebenfalls zum Flughafen gebracht. Elf von ihnen gehören der marxistischen Guerillagruppe ERP an.

Argentinien an der Schwelle zur Militärdiktatur

Die politische Lage ist angespannt. Argentinien steht an der Schwelle zu einer Militärdiktatur. Die Flucht der sechs politischen Gefangenen nach Chile erzeugt Druck auf die nachbarschaftlichen Beziehungen.

Argentinien verlangt die Auslieferung. Die linke Regierung von Salvador Allende stellt sich stur. In der Nacht zum 22. August geschieht es dann. Gegen 3.30 Uhr, so berichten später Überlebende, werden die Gefangenen geweckt, müssen sich auf dem Flur aufstellen, wo sie Minuten später exekutiert werden. Die offizielle Lesart lautete lange: bei einem erneuten Fluchtversuch erschossen.

Nur, weil sie in Doppelreihen standen, überlebten sieben Gefangene die Hinrichtung – teils schwer verletzt. Sie bekamen jedoch keine medizinische Hilfe, sodass vier von ihnen später an den Verletzungen starben. Die anderen drei Überlebenden und zahlreiche Angehörige der Opfer verschwanden in der Zeit der Militärdiktatur (1976-1983) spurlos.

Auftakt eines illegalen Staatsterrorismus

Das Massaker von Trelew gilt als Auftakt eines illegalen Staatsterrorismus, der kurz darauf in die Diktatur mündete. Erst im 21. Jahrhundert nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf. Die Angehörigen eines Opfers drängten darauf. Die Offiziere Luis Emilio Sosa, Carlos Roberto Bravo, Ruben Paccagnini, Raul Alberto Herrera und Emilio Jorge Del Real wurden angeklagt.

Drei von Ihnen, Sosa, Paccagnini und Del Real konnten Anfang 2008 festgenommen werden. Herrera starb und Bravo, in den USA untergetaucht, weigerte sich, das Land zu verlassen. Am 15. Oktober 2012 erging das Urteil: Der Bundesgerichtshof verurteilte Luis Emilio Sosa, Emilio Jorge Del Real and Carlos Amadeo Marandino zu lebenslanger Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Spät wurden sie für 17 Morde und 3 versuchte Morde zur Rechenschaft gezogen.

Das kleine Flughafengebäude wurde zur Gedenkstätte. Von außen hat es sich kaum verändert. Nur eine große Messingtafel neben dem Eingang erinnert daran, dass irgendwann Staatspräsidentin Kristina Kirchner zur Einweihung dort war. Die Bemühungen wirken halbherzig. Die Gedenkstätte musste wohl sein – aber dafür sorgen, dass die Erinnerung wachgehalten und weitergetragen wird? Es wirkt, als sei seit der Eröffnung alles sich selbst überlassen. Innen finden sich vor allem alte Fotos und Infotafeln – alles nur auf Spanisch.

"Politik geht mit der Erinnerung an das Massaker nicht offensiv um"

Wer die Gedenkstätte finden will, muss suchen. Etwas außerhalb liegt sie. Kein Hinweisschild, keine Bushaltestelle. Nicht mal im Ortskern, beim Paläontologischen Museum Egidio Feruglio oder dem kleinen historischen Museum findet man Hinweise. Die Wikipedia-Seite der Stadt weist stattdessen einen 300 Meter hohen Funkmast als Sehenswürdigkeit aus.

25 Kilometer entfernt liegt Puerto Madryn. Der Küstenort ist der Ausgangspunkt zum Nationalpark auf der Valdez-Halbinsel oder zur Pinguinkolonie Punto Tombo. Hunderttausende Touristen kommen jährlich dorthin, um Pinguine, Seelöwen oder Wale zu sehen. Die meisten kommen über den neuen Flughafen von Trelew, fahren aber gleich weiter.

Seit mehr als 20 Jahren bringt Tourguide Mary Besuchern aus aller Welt diese Naturschönheiten näher. Einen Abstecher zur Gedenkstätte hat sich von ihr bislang noch keiner gewünscht. "Die Politik geht mit der Erinnerung an das Massaker nicht offensiv um", sagt sie. Man wolle das Thema, das so lange unter den Teppich gekehrt war, lieber weiter in Frieden lassen.

Von Andreas Nöthen


Quelle:
KNA