Missbrauch in den USA: Deutscher Jesuit über die Wut der Gläubigen

"Angst vor dem Gottesdienst"

Nach der Veröffentlichung hunderter neuer Fälle von Kindesmissbrauch durch katholische Priester in den USA ist die Wut der Gläubigen stärker denn je. Jesuitenpater Godehard Brüntrup berichtet aus Los Angeles über Schock und Hoffnung.

 (DR)

Es ist ein fast paradiesischer Sonntagmorgen in Los Angeles. Keine Wolke ist am Himmel zu sehen, das Hellblau des Himmels geht am Horizont in das Dunkelblau des Pazifiks über, von dem her eine erfrischende Brise bläst. Auf dem Weg zur Kirche bleibe ich kurz unter Palmen stehen und beobachte zierliche Kolibris bei ihren akrobatischen Flugkünsten.

Der Kontrast zur Stimmung in der katholischen Kirche in den USA könnte größer nicht sein. Als ich die Tür zur Herz Jesu Kirche öffne, fühle ich eine gewisse Anspannung. Der Pfarrer hat mir am Vorabend gesagt, dass er Angst hat vor diesem Gottesdienst. Die Wut der Gläubigen über den Klerus ist stärker zu spüren als jemals zuvor in den gut 15 Jahren, seitdem bekannt wurde, wie oft Gewalt gegen Minderjährige von Kirchenmännern ausging, von Prügelstrafen bis hin zu Vergewaltigungen.

300 mutmaßliche Täter

Warum aber jetzt diese erneute Empörung? In Deutschland wird eine wissenschaftliche Studie zum kirchlichen Missbrauch erst dieses Jahr vorgestellt werden. In den USA aber wurde eine wissenschaftliche Analyse des kirchlichen Missbrauchs bereits 2004 von einer anerkannten kriminologischen Forschungseinrichtung vorgelegt. Demnach lagen seit 1950 gegenüber vier Prozent der Priester glaubhafte Anschuldigungen vor, die Hälfte davon wurde als weiter erhärtet eingestuft. Eine verstörende Zahl.

Sie war allerdings nicht gleichmäßig über den Zeitraum verteilt. Die Spitze wurde mit dem Weihejahrgang von 1970 erreicht, seitdem fällt die Kurve steil ab und erreichte im Jahr 2000 fast null Prozent. Vom Weihejahrgang 1970 wurde aber jeder zehnte Priester Grenzverletzungen oder gewaltsamer Übergriffe beschuldigt. Für alle ist es seitdem klar, dass es sich nicht um Einzelfälle handelte.

Der Auslöser für die erneute Erschütterung ist ein gerade veröffentlichter staatlicher Untersuchungsbericht über einige Diözesen im Osten der USA. Er identifiziert ca. 300 mutmaßliche Täter (Priester, Ordensleute und Seminaristen) im Bundesstaat Pennsylvania. Der Bericht ist umfassend und reicht viele Jahrzehnte in die Vergangenheit zurück. Kritiker meinten, dass eine verlässliche Aufklärung der weit entfernten Vergangenheit gar nicht mehr möglich sei.

Ein Beispiel: Der im Bericht erwähnte Priester Joseph G. (geboren 1892) wurde 2008 von einem dann achtzig Jahre alten Mann des Missbrauchs in den 30er Jahren  des letzten Jahrhunderts beschuldigt. G. selbst bat 1945 um eine richterliche Klärung von schon damals bekannten Vorwürfen gegen ihn, die mit einem Freispruch endete.

Der Vorwurf von 2008 steht nun wieder im Raum. Der Priester ist wie die meisten Täter längst verstorben. Kann man diese Anschuldigungen heute gerichtsfest aufklären? Das ist die falsche Frage. Darum ging es gar nicht. Es ging darum, dem Zeugnis der Betroffenen zu glauben und sich auf dieser Basis ein Gesamtbild zu machen. Im Untersuchungszeitraum waren im Staat Pennsylvania ca. 5.000 Priester tätig. Gegen knapp 300 von 5.000 Priestern wurden also Vorwürfe erhoben, das ist wieder eine schreckende Größenordnung.

Gesamtschau einer großen Region über Jahrzehnte hinweg

Es wird dann auch gelegentlich eingewendet, es ginge ja in den meisten Fällen gar nicht um Sex im engeren Sinne, sondern eher um unerwünschte Berührungen oder aufdringliche Gespräche über sexuelle Themen. Das ist zwar korrekt, geht aber wieder am Problem vorbei. Diese weniger schweren Taten sind nicht harmlos, sie schufen zudem das Milieu, in welchem schwere sexuelle Übergriffe in nicht geringer Zahl stattfanden.

Das macht der Bericht auf drastische Weise klar, weil die Details der Taten nicht verschleiert werden. Für die Bewertung des Geschehenen spielt es auch keine große Rolle, dass die im Bericht beschriebenen Fälle meist längst bekannt waren und vorher schon untersucht wurden, ja zum Teil auch schon straf-, zivil- und kirchenrechtliche Folgen hatten. Der springende Punkt des Berichts liegt in der überblicksartigen Gesamtschau einer großen Region über Jahrzehnte hinweg. Die Quintessenz: Es handelt sich bei diesen Vergehen und Verbrechen nicht um ein Randphänomen, sondern um ein räumlich und zeitlich stabiles Muster.

Allerdings wussten wir auch das schon. Und daher drängt sich erneut die Frage auf. Warum jetzt erneut diese Erschütterung? Die amerikanische Kirche hatte wie wohl keine andere auf die Enthüllungen kurz nach der Jahrtausendwende mit durchgreifenden Maßnahmen reagiert. Sie trugen Frucht. Das bestreitet kaum jemand. Die Zahlen belegen dies. Von den hunderten Fällen im Bericht sind nur zwei nach 2003 angesiedelt.

In den vergangenen beiden Jahren wurde gegen 0,005 Prozent der katholischen Priester in den USA eine Anschuldigung wegen sexualisierter Gewalt vorgebracht. Aber auch diese erfreuliche Entwicklung kann nicht die Empörung darüber lindern, was eben über Jahrzehnte hinweg Realität war. Der Bericht von Pennsylvania reißt die nur oberflächlich verheilten Wunden wieder auf. Er zeigt, dass das Thema eben nicht "durch" und "vorbei" ist, wie es manche in der Kirchen sich klammheimlich erhofften.

Satanische Rituale eines in Teilen moralisch korrupten Klerus

Der Bericht war so wirksam gerade wegen der schonungslos offengelegten Details der Übergriffe. Sie fanden sich nicht nur im Internet und den sozialen Netzwerken wieder, sondern sogar auf den Titelseiten der Tageszeitungen. Das birgt die Gefahr des Voyeurismus und Sensationsjournalismus. Mir scheint eine wirkliche Aufarbeitung andererseits nur möglich, wenn man die Taten klar benennt und beschreibt. In Bezug auf die sexualisierte Gewalt machen diese Schilderungen nämlich auf überdeutliche Weise klar, wie die Täter ihrer sexuellen Lustbefriedigung eine religiöse Rechtfertigung zu geben versuchten.

Das Missbrauchsgeschehen war oft in Rituale eingebettet, die man nicht nur als pseudoreligiös sondern geradezu als satanisch betrachten sollte. Der spirituelle Machtmissbrauch ist es insbesondere, der dem Leser des Berichts das Messer in der Tasche aufgehen lässt. Das Kind oder der Jugendliche sah sich nicht nur als Lustobjekt einem mächtigeren Erwachsenen ausgeliefert. Der Machtmissbrauch wird zusätzlich noch durch die höchste moralische Instanz, Gott selbst, als gerechtfertigt und gewollt ausgegeben.

Die Vermischung von gewaltbereiter Sexualität und Religion konkretisierte sich in Ritualen von geradezu unvorstellbarer Perversität, etwa wenn ein Junge gezwungen wurde nackt den gekreuzigten Jesus darzustellen. Dass sich die Gesellschaft darüber mehr empört als über einen erbärmlichen Spanner in einem Sportverein, der geifernd die jugendlichen Körper seiner Schützlinge unter der Dusche betrachtet, zeigt, dass wir uns ein Gefühl des Heiligen bewahrt haben. Religiös gerechtfertigte sexualisierte Gewalt ist in besonderer Weise moralisch verkommen und böse.

Ein weiterer Aspekt erklärt die Wut unter den amerikanischen Katholiken, die sich jetzt auch – nach chilenischem Vorbild - in Rücktrittsforderungen an alle Bischöfe ausdrückt. Der Bericht macht das Versagen und Vertuschen der Bischöfe überdeutlich. Immer und immer wieder wird das durch Schriftstücke belegt. Zudem: Nur kurz vorher wurde bekannt, dass einer der höchsten Würdenträger der US-Kirche, der ehemalige Kardinal McCarrick über sein gesamtes priesterliches Wirken hinweg sexuelle Beziehungen zu Jungen und jungen Männern unterhielt, darunter viele Seminaristen. Er gab seinen Kardinalshut zurück und darf das Priesteramt nicht mehr öffentlich ausüben.

Man erinnert sich aber, dass er sich 2003 mit an die Spitze der Aufklärer stellte und ein drastisches Durchgreifen versprach. Mehr Doppelzüngigkeit geht nicht. Zudem wurde jetzt bekannt, dass Anschuldigungen gegen ihn seit langem auch einigen seiner Mitbrüder im Bischofsamt bekannt waren, aber nichts Wirksames unternommen wurde. Der Fisch stinkt vom Kopfe her. Auch das wird jetzt in einem Maße deutlich, das viele trotz der schon bekannten Enthüllungen so nicht für möglich gehalten hätten.

Menschen halten an ihrem Glauben fest

Kein Wunder, dass der Pfarrer an jenem sonnigen Sonntagmorgen in Los Angeles eine leere Kirche erwartete. Er fürchtete, dass die Leute jetzt endgültig genug hätten und wegblieben. Zu seinem Erstaunen war die Kirche war aber gefüllt, sehr voll sogar. Und darin steckt eine überlebenswichtige Botschaft für die Kirche. Die Menschen wollen sich ihren Glauben von einem in Teilen moralisch korrupten Klerus nicht kaputt machen lassen. Jetzt einfach wegzulaufen wäre gerade das Anerkennen eines falschen Bildes, das die Kirche vornehmlich mit den Priestern identifiziert.

In seinem jüngsten Brief über das Übel sexualisierter Gewalt beklagt Papst Franziskus den Klerikalismus in der Kirche als einen Nährboden für priesterlichen Machtmissbrauch. Wir wissen nicht, wie die Kirche aus dieser existentiellen Krise hervorgehen wird. Die Situation ist ernst. Die Schönredner, die all dies für eine "Kampagne" feindlicher Journalisten hielten, sind längst auf dem Müllhaufen der Kirchengeschichte gelandet. Eines aber ist sicher: die Kirche der Zukunft kann keine selbstherrliche privilegierte "Priesterklasse" mehr dulden, für die Ex-Kardinal McCarrick ein geradezu prototypisches Beispiel war. Das ist die klare Botschaft, die aus den USA in die Weltkirche gesendet wird.

Information

Unser Gastautor, der Jesuit Prof. Godehard Brüntrup SJ, ist Vizepräsident der Hochschule für Philosophie München. Für das Wintersemester 2013/14 nahm Brüntrup einen Ruf als James Collins Visiting Professor in Philosophy der Saint Louis University an. Seitdem verbringt er regelmäßig den August/September als Extracurricular Professor an der St. Louis University.


Prof. Dr. Godehard Brüntrup SJ (HfPH)
Prof. Dr. Godehard Brüntrup SJ / ( HfPH )
Quelle:
DR
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