Im Beton eines Pariser Problem-Milieus blüht kirchliches Leben

"An die Ränder! Das ist unser stärkster Ruf"

Auch in  Saint-Denis muss sich in den kommenden Jahren zeigen: Wie stark ist der soziale Mörtel, den Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron anrühren kann? Ein kirchlicher Blick in die Pariser Vorstadt.

Autor/in:
Alexander Brüggemann
Jugendlicher mit Jesus-Jacke in der Kathedrale des Pariser Vororts Saint-Denis  / © Michael Bunel (KNA)
Jugendlicher mit Jesus-Jacke in der Kathedrale des Pariser Vororts Saint-Denis / © Michael Bunel ( KNA )

Viele Namen klingen kosmopolitisch in den Ohren von Paris-Reisenden - vor allem wohl wegen der entsprechenden U-Bahn-Stationen oder Autobahnausfahrten: Bobigny, Bagnolet, Drancy, Montreuil, Les Lilas, Le Blanc-Mesnil. Was aber wartet, wenn man dort aussteigt? Das wissen nur die allerwenigsten.

Der Pariser Nordosten hat eine bleischwere Arbeitervergangenheit, seit die Stadt in Gestalt des Architekten Baron Georges-Eugene Haussmann im 19. Jahrhundert die Pestilenz und die stinkenden Schlote der Industrialisierung aus dem Zentrum herausbeförderte. In Saint-Denis liegt das "Stade de France", Ort des EM-Finales 2016 und Schauplatz eines Terroranschlags im November 2015. Drei islamistische Attentäter sprengten sich am Stadion in die Luft; nach einer nächtlichen Polizei-Razzia noch eine weitere Frau.

"Nichts ist gut in Saint-Denis", ist man mit einem abgewandelten Zitat der früheren Bischöfin Margot Käßmann über Afghanistan versucht zu sagen. Die Pariser Vorstadt im Norden ist zu quasi 100 Prozent zubetoniert. Trabantensiedlungen. Tristesse. Sozialer Brennpunkt. Der katholische Bischof Pascal Delannoy ist freilich anderer Meinung. Vieles ist gut in Saint-Denis!

Solidarität - fest zusammenstehen

Der 60-Jährige, Stellvertretender Vorsitzender der Französischen Bischofskonferenz, sagt: "Man darf nicht nur auf die Tragödien schauen. Ich erlebe jeden Tag ein ganz anderes Saint-Denis, als es in den Medien dargestellt wird. Es gibt hier enorme Brüderlichkeit und Solidarität unter den Menschen." Solidarität. Der lateinische Wortstamm heißt "solidus", fest. Fest zusammenstehen.

Die Kirchen der Vorstädte, seien sie schön oder nicht, sind Orte des Gebets; eine Anlaufstelle. "Kirche, das ist nicht nur, sich sonntags zur Messe zu versammeln", sagt der Bischof. Und ist trotzdem froh, dass drei Viertel seiner Kirchen am Wochenende gut gefüllt sind. "Wir haben auch viele Kinder und Jugendliche; sehr engagierte Leute in der Caritas und bei Solidaritätsaktionen."

Etwa 130 Nationalitäten

Vor allem aber schwärmt Delannoy von einer "unwahrscheinlichen kulturellen Diversität": Maghrebiner, Schwarzafrikaner, Chinesen, Tamilen. Etwa 130 Nationalitäten leben hier. "Das verhindert, dass eine bestimmte Gruppe die Oberhand gewinnt, wie es das in anderen Regionen gibt. Wir sind immer ein bisschen in Richtung Gleichheit unterwegs. Die Herausforderung ist, zusammenzuleben - anders geht es gar nicht. Hier wäre es eine totale Illusion zu glauben, man könnte ein Ding nur unter Franzosen machen."

Natürlich, Katholiken meinen oft: Verschiedenheit ist eine Chance. "Klar kannst du das sagen", so der Bischof - "und trotzdem ist dann noch gar nichts geschafft! Das ist ein ganz schön dickes Brett." Die größte Hilfe dabei sieht Delannoy im gemeinsamen Glauben, der die Nationalitäten in der Kirche eine. Und in der Unterstützung durch Papst Franziskus. "An die Ränder gehen! An die Ränder der Existenz, über uns selbst hinaus - das ist unser stärkster Ruf."

Orte der Solidarität

Wie der Pfarrer, der mit jungen Leuten bei den Mülltonnen hockt und über Rugby diskutiert. All die Solidaritäts- und Sozialprojekte, die aus den Gemeinden und kirchlichen Gruppen kommen. Der Bischof weiß: "Armutsbekämpfung allein reicht nicht. Es braucht Orte der Solidarität, um all diese sozialen Härten überwinden zu können."

Besonders liegt Delannoy die Jugend am Herzen. "Wir müssen aufhören, immer nur zu denken, sie seien die Zukunft der Kirche", sagt er. "Sie sind unsere Gegenwart!" Es herrscht hohe Jugendarbeitslosigkeit im Departement. "Wenn wir den Jugendlichen keine Arbeit bieten können, dann signalisieren wir ihnen, dass wir sie nicht brauchen. Und das richtet Verheerendes in den Köpfen an."

"Ich kultivierte meine Angst"

Der Fotograf Michael Bunel hat das kirchliche Leben im Pariser Nordbistum über fünf Monate beobachtet, hat sich darauf eingelassen: "Das negative Image von Saint-Denis ist mir schon in meiner Jugend nachgegangen", berichtet er. "Ich war fasziniert - und kultivierte zugleich eine gewisse Angst vor bestimmten Vierteln." Für seine Arbeit habe er aber überall bald offene Türen vorgefunden.

"Ich habe eine angestaubte Sonntagskirche erwartet", gibt Bunel zu, der vorher im Flüchtlings-"Dschungel von Calais" fotografiert hatte. "Aber ich wurde überrascht: so viele junge Leute, so viele Initiativen, die etwas reißen wollen für ihr Viertel. Ob du hier Christ bist, Muslim oder Jude: Die Jungen wollen sich austauschen, zusammensein." Besonders erstaunt habe ihn die Christliche Arbeiterjugend (CAJ): "so engagiert, so präsent; bei Demos; bei der Suche nach Lösungen für Jugendliche, denen Probleme unter den Nägeln brennen".

Seine Bilder sprechen von diesen lebendigen Erfahrungen. Da versammelt sich in der Kathedrale von Saint-Denis die Jugend zur Lourdes-Wallfahrt. Und da ist dieser Junge mit dem Basketball-Shirt auf dem Weg zum Altar, auf dem steht: "Jesus 01". "Diese Jungen nehmen sich die Sprachcodes der Straße, um ihren Glauben auszudrücken", sagt Bunel.

Schule, Familie und Struktur

Die Studentengemeinde Paris-8 oder die "Vorstadt-Felsoase" mit ihren Alphabetisierungskursen, Ausflügen, interreligiösen und interkulturellen Jugendprogrammen. "Warum macht sich Kirche so stark auf einem solchen Terrain?", staunt der Fotograf. "Das hätte ich mir vorher nicht vorstellen können." Der Staat gebe bestimmte Viertel einfach auf. "Gäbe es nicht diese vielen sozialen und kirchlichen Initiativen, wäre das Leben hier noch viel komplizierter. Schule, Familie und diese Strukturen - das sind die einzigen Ankerpunkte."

Seit Anfang 2014 fährt Clelia Chopineaud den blauen Bulli des Schulbrüderordens. Die junge Lehrerin weiß nicht, ob ihre Bemühungen, Roma-Kindern lesen und schreiben beizubringen, heute auf fruchtbaren Boden fallen werden. Aber sie weiß ganz genau, dass sie niemals alle wird erreichen können. Immer wenn wieder eine Barackensiedlung eingerissen wird, nimmt sie ihren Bulli und macht anderswo weiter.

Ihr Wille scheint unzerstörbar. Wenn sie fällt, steht sie wieder auf. Vieles ist gut in Saint-Denis. Es kommt auf die Perspektive an - und dass es eine gibt.


Quelle:
KNA