Kirche in Brasilien ruft zu Protesten auf

"Fatale Entwicklung"

In Brasilien befürchten Gewerkschaften und Kirchenvertreter eine rasante Zunahme von prekären Beschäftigungsverhältnissen, sinkende Löhne und eine Abschaffung des Arbeitsschutzes. Deshalb rufen sie nun zu Massenprotesten auf.

Proteste in Brasilien / © Fernando Frazão (dpa)
Proteste in Brasilien / © Fernando Frazão ( dpa )

domradio.de: Was kritisiert die Kirche an der brasilianischen Regierung?

Norbert Bolte (Brasilien-Referent von Adveniat): Die brasilianische Bevölkerung ist in ihrer Mehrheit mit diesem Präsidenten nicht einverstanden. Zunächst war dieser nur Vizepräsident und kam durch einen Staatsstreich an die Macht. Es gibt große Zweifel an der Legitimität dieses Präsidenten, der von Anfang an sehr deutlich gemacht hat, worum es ihm geht: Soziale Fortschritte der Vorgängerregierung zurückschrauben, und in den Mittelpunkt seiner Regierungspolitik das Geld und das Kapital zu setzen. 

domradio.de: Wer wird unter den geplanten Veränderungen leiden?

Bolte: Diese geplanten Veränderungen sahen zunächst vor, die Staatsausgaben zu deckeln. Das ist vor einigen Monaten schon passiert. Jetzt kommt hinzu, dass in der vergangenen Woche gravierende Veränderungen im Arbeitsrecht und in der Sozialversicherung eingeführt wurden. Die bedeuten zum Beispiel die Erhöhung des Rentenalters, sinkende Löhne, unsichere Arbeit, Leiharbeit, Zeitarbeit, Auslagerung von Arbeit. Das bedeutet, dass die in der sozialen Skala ohnehin schon weit unten Stehenden Landarbeiter, Indigenen, Afrobrasilianer, Kleinbauern, Witwerinnen und Witwer und Rentner mit erheblichen Einbußen rechnen müssen. 

domradio.de: Kirchenvertreter und Gewerkschaften rufen zu Massenprotesten gegen die Abschaffung von Arbeitnehmerrechten und den Abbau von Sozialversicherungen auf. Schließlich sei die Sozialversicherung ein Grundrecht, das durch die Verfassung garantiert wird. Wie sinnvoll und wie notwendig ist es, dass sich die katholische Kirche in diesen Konflikt einmischt?

Bolte: Die katholische Kirche nimmt hier zusammen mit der lutherischen Kirche in Brasilien und ökumenischen Gremien eine Rolle wahr, die ihr gut zusteht. Sie ruft dazu auf, Kritik an den Beschlüssen zu üben, aber auch sich konkret zu organisieren, damit unter Umständen etwas verhindert werden kann, das für die Zukunft dieses Landes fatal wäre. Sie verurteilt vor allem die Tatsache, dass die Regierungspolitik jetzt durch diese Reformbeschlüsse eindeutig von ethischen Grundsätzen, sozialen Werten, Gemeinschaft und Solidarität abrückt und das Kapital in den Mittelpunkt stellt. Die Kommission justitia et pax in Brasilien bringt das mit Blick auf die Reform klar auf einen Punkt. Sie spricht von einem Schlag gegen die Würde der Arbeit und damit auch von einem Schlag gegen die Würde der Menschen. Dadurch kommt den Kirchen in Brasilien die wichtige Aufgabe zukommt, das in die Öffentlichkeit zu bringen.

domradio.de: Wie schätzen Sie die Chancen der Christen in Brasilien ein, die Widerstand leisten wollen?

Bolte: Es wird davon abhängen, in welchem Maße den Kirchen, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften es gelingt, in Brasilien größere Massen zu organisieren. Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass solche Demonstrationen Erfolg und Einfluss haben können. Ob es dann gelingt, kurzfristig etwas zu ändern, sei dahin gestellt. Die jetzige Regierung hat noch gut ein Jahr vor sich, und hat sicherlich ein strammes Programm an weiteren Veränderungen auf ihrer Agenda. Wir müssen abwarten, wie sich die Opposition formiert und wie im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 unter Umständen wieder neue Kräfte die Oberhand gewinnen können, die wieder das zurück in den Mittelpunkt stellen, was 15 Jahre lang im Mittelpunkt war: Der Mensch mit seinen Bedürfnissen und mit seinen Grundrechten.

Das Interview führte Tobias Fricke.

 

Quelle:
DR