Pfarrer von Aleppo hofft auf diplomatische Lösung

"Die Lage ist aussichtslos"

Seit Tagen wird die syrische Stadt Aleppo wieder heftig umkämpft. Trotz auswegloser Lage ruft der dortige lateinische Pfarrer Ibrahim Alsabagh dazu auf, die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung dennoch nicht aufzugeben.

Trümmer in Aleppo / © Zouhir Al Shimale (dpa)
Trümmer in Aleppo / © Zouhir Al Shimale ( dpa )

KNA: Aleppo steht seit Tagen unter heftigem Beschuss. Sind Sie in Kontakt mit Ihrer Gemeinde?

Ibrahim Alsabagh (Lateinischer Pfarrer von Aleppo): Tag und Nacht! Ich fühle mich zerrissen, hier in Jerusalem zu sein. Ich wäre lieber in Aleppo, um diese dramatische Erfahrung mit den Menschen zu teilen und mit ihnen zu beten.

KNA: Als vor rund zwei Monaten die Franziskanerschule in Aleppo zum Ziel eines tödlichen Raketenangriffs wurde, sagten Sie, Aleppo sei längst "keine Stadt mehr, in der man noch leben kann". Und heute?

Alsabagh: Meine Mitbrüder und ich haben die Geschehnisse von Minute zu Minute und im Detail mitverfolgt. Bis jetzt haben wir es vorgezogen zu schweigen, angesichts von so viel Bitterkeit und Leid. Seit dem 8. Juli hat sich die Lage täglich verschlimmert. Innerhalb von vier Stunden sind 250 Raketen auf Westaleppo gefallen, das Ausmaß der Zerstörung ist unvorstellbar. Drei Tage und Nächte kamen die Bewohner nicht zur Ruhe und fanden keinen Schlaf. Die Erfahrungen gehen über das Aushaltbare hinaus. In diesen Tagen hat Aleppo die schlimmsten Momente in seiner Geschichte erlebt.

KNA: Hat sich die Situation aktuell etwas beruhigt?

Alsabagh: Gestern ist erstmals etwas Ruhe eingetreten und wir konnten uns wieder in der Stadt bewegen. Meine Mitbrüder haben den Konvent in Er-Ram inspiziert, der seit Kriegsbeginn mehrfach getroffen und auch jetzt wieder bombardiert wurde. Wir konnten die in der Schule untergebrachten Alten besuchen und haben begonnen, Hilfspakete an Familien auszugeben. Zusammen mit Jugendlichen haben wir die Verletzten im Krankenhaus der Josephsschwestern und das Altenheim der Mutter-Teresa-Schwestern besucht.

KNA: Wie gehen die Menschen vor Ort mit der schwierigen Lage um?

Alsabagh: Es gibt keine Worte, zu beschreiben, was gegenwärtig passiert. Ich habe in den vergangenen Tagen viele Gebete und Verzweiflungsrufe erhalten. Die Menschen beten Tag und Nacht.

KNA: Die Christen leben im von der syrischen Armee kontrollierten Westen der Stadt. Heißt das, die Raketen kommen von den Rebellen?

Alsabagh: Man sagt Rebellen, aber es sind Milizen. Wir wissen nicht genau, ob es Dschihadisten, Fundamentalisten oder Terroristen sind. Was wir bezeugen können, ist der Terror. Wer Raketen auf Wohnhäuser, Kirchen, Schulen und Krankenhäuser schießt, ist kein "moderater Rebell"!

KNA: Diese sogenannten Rebellen bereiten sich auf eine monatelange Belagerung des Ostens der Stadt vor. Was bedeutet das für die Menschen?

Alsabagh: Es bedeutet, dass wir keine Möglichkeit mehr haben, zu leben. Es wäre besser, zu sterben. Man muss aber sagen, dass die Armee die Grenzen eine lange Zeit offen gehalten hat für Rebellen wie Zivilisten. Wer den Osten verlassen wollte, konnte es.

KNA: Wäre eine Evakuierung der Menschen nicht angebracht?

Alsabagh: Auf dieselbe Frage antwortete mir vor zwei Tagen ein Bewohner: Wohin können wir gehen und wie, wenn wir alles zurücklassen müssen? Und wie wird man uns als Ausländer behandeln? Das sind die Fragen vieler Familien, die ein Haus besitzen oder eine Arbeit haben.

Wir als Franziskaner können unseren Gläubigen nicht sagen, dass sie gehen oder bleiben sollen. Stattdessen versuchen wir, ihnen bestmöglich zu helfen. Auf diese Weise können sie eine freiere Entscheidung treffen und nicht aus Angst oder als Reaktion auf den Terror.

KNA: Wie kann die internationale Gemeinschaft helfen?

Alsabagh: In erster Linie mit Gebet! Das zweite Anliegen folgt unmittelbar: Schließt die Grenzen, durch die der Nachschub an Waffen, Nahrung und Kämpfern kommt. Zu 95 Prozent kommt der Nachschub aus der Türkei, und er kommt mit Hilfe. Wir reden nicht von einzelnen Personen, sondern von organisierten Truppen mit einer Logistik.

KNA: Die Christen leben im regierungskontrollierten Teil der Stadt. Ist das ein gewisser Schutz?

Alsabagh: Zumindest haben wir im Westen der Stadt ein Lebensrecht und das Recht auf unseren Glauben. Wir dürfen in unseren Kirchen beten und nach unserem Glauben leben. Für das Rebellengebiet kann ich mir das schwer vorstellen.

KNA: Dennoch zählen auch die Christen viele Opfer...

Alsabagh: Zwei Drittel der Christen, wenn nicht mehr, sind geflohen. Und auch die Liste der Märtyrer ist lang. Wir als Franziskaner bereiten unsere Gläubigen darauf vor. Zu bestimmten liturgischen Zeiten oder an bestimmten rein christliche Orten, fühlen wir, dass wir bombardiert werden, weil wir Christen sind. In anderen Momenten sind wir als Teil des gesamten Volkes Ziel der Bomben. Wir dürfen angesichts dieses Übels nicht passiv bleiben. Unsere klare Antwort muss Geduld heißen, und eine Positivität des Handelns. Deswegen helfen wir, wo wir können, besuchen die Kranken und beten mit den Gläubigen.

KNA: Ein syrisches Sprichwort sagt "Wer Aleppo regiert, regiert das Land". Könnte der Kampf um Aleppo zum entscheidenden Moment des Kriegs werden?

Alsabagh: Wer Aleppo kontrolliert, kontrolliert das Zentrum des Landes bis hin zu den Grenzen, von Osten nach Westen. Dennoch hoffen wir auf eine diplomatische Lösung, oder, wie Papst Franziskus gesagt hat: Es kann keine andere Lösung geben als eine diplomatische. Umgekehrt ist für die Armee der Dialog gescheitert und es gibt keine andere Lösung, als weiterzukämpfen. Wie kann man von einer Regierung erwarten, mit diesen Terroristen zu verhandeln? Das wäre, wie von Belgien zu verlangen, mit Selbstmordattentätern in den Dialog zu treten.

Die Lage ist aussichtslos. Die vergangenen Tage sind Ausdruck der Unmöglichkeit einer diplomatischen Lösung. Syrien ist zerrissen, nicht nur territorial. Die zahlreichen Spaltungen der Gesellschaft haben sich über lange Zeit vertieft und sind mit dem Blut vieler Toter besiegelt worden. Trotzdem hoffen wir weiter, und zuletzt war erstmals ein bisschen Bewegung in Richtung eines Dialogs zu spüren. Es ist ein Hoffen wider jede Hoffnung.

Das Interview führte Andrea Krogmann.


Quelle:
KNA