Misereor zum internationalen "Schuldenreport 2016"

"Beim Schuldenerlass hat Deutschland eine Schlüsselrolle"

Investition in Entwicklungsprojekte statt Rückzahlung der Auslandsschulden - diesen Vorschlag unterbreitet Misereor angesichts des Schuldenreports 2016. Und sieht auch für Deutschland noch Handlungspotential. Ein domradio.de-Interview.

Slum im kenianischen Nairobi / © Carola Frentzen (dpa)
Slum im kenianischen Nairobi / © Carola Frentzen ( dpa )

domradio.de: Die Initiative "erlassjahr.de" und das katholische Hilfswerk Misereor haben heute ihren Schuldenreport 2016 vorgestellt. 5,4 Billionen US-Dollar - auf diese Summe belaufen sich die Auslandsschulden der Entwicklungs- und Schwellenländer. Zudem sind derzeit 108 Länder der Welt akut von Überschuldung bedroht. Das klingt bedrohlich. Ist es so, wie wir uns das vorstellen? Liegen die meisten dieser so schlimm verschuldeten Länder in Afrika?

Klaus Schilder (Finanzexperte beim Hilfswerk Misereor): Wir wollen mit dem vorgestellten Bericht vor einer wachsenden Überschuldungsgefahr in Nord und Süd warnen. Das betrifft eben nicht nur die klassischen Niedrigeinkommensländer, die man vielleicht in Afrika vermuten würde. Es ist ein weltweites Problem. Es sind auch nicht nur die ärmsten Länder betroffen. Auch viele Schwellenländer verschulden sich derzeit wieder massiv auf den internationalen Kapitalmärkten. Grund dafür ist das billige Geld. Die Schuldenkrise macht auch vor Europa nicht Halt, denn auch Griechenland ist in einer bedrohlichen Lage der Staatsverschuldung.

domradio.de: Was bedeutet das denn für die Entwicklung eines Staates, wenn sich dieser Staat immer mehr verschulden muss?

Schilder: Um es einfach zu sagen: Es fehlen dringend benötigte öffentliche Ressourcen, um Programme nachhaltiger Entwicklung und Armutsbekämpfung in den Ländern durchzusetzen, um soziale Grunddienste im Bildungs- und Gesundheitsbereich zu finanzieren. Im Jahr 2013 überstieg der Schuldendienst aller Entwicklungs- und Schwellenländer mit 860 Milliarden US-Dollar die Entwicklungszusammenarbeit, also die Entwicklungshilfe des Nordens, um das Vierfache. Daran sieht man schon, um welche Dimensionen es geht. Die öffentlichen Haushalte sind gezwungen, wichtige Devisen für den Schuldendienst aufzuwenden. Diese Investitionen stehen dann eben nicht mehr im Land zur Verfügung.

domradio.de: Weltweite Fluchtbewegungen sind das Thema dieser Wochen und Monate. Und sie stehen in direktem Zusammenhang mit der Schuldenpolitik der westlichen Länder. Was macht denn Deutschland als Gläubiger für eine Figur?

Schilder: Bevor ich auf Deutschland komme, muss man vielleicht sagen, dass die Korrelation des Überschuldungsgrades der gesamten von Ihnen angesprochenen Ländergruppe und der Herkunftsländer für Flüchtlinge in Deutschland einfach nicht da ist. Das ist ein bestenfalls indirekter Zusammenhang. Aber wir sehen, dass eben der Schuldendienst, dieser ungeheure Druck zur Bedienung internationaler Schulden, in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern die Arbeits- und Perspektivlosigkeit verschärft, den Druck auf Bildungssysteme erhöht und zum Abbau sozialer Grunddienste führt. Wenn wir uns jetzt Migration als Flucht aus misslichen Lebensverhältnissen verstehen, dann sehen wir allerdings eine Koinzidenz des Überschuldungsindexes und Migration, also der Hauptherkunftsländer für Migrantinnen und Migranten nach Europa. Hier sind beispielsweise Gambia, die Kapverdischen Inseln, Ghana, Mauretanien, Mazedonien oder Marokko zu nennen. Deutschland könnte sehr viel mehr tun, zum Beispiel den 15 wichtigsten Herkunftsländern für Migrantinnen und Migranten, allen voran Ägypten, Pakistan und Irak, einen Teil ihrer Staatsschulden erlassen. Es gibt dazu eine sogenannte Schuldenumwandlungsfazilität. Die könnte die Bundesregierung in sehr viel stärkerem Maße nutzen, als sie das bisher tut.

domradio.de: Das heißt, wenn Deutschland auf die Rückzahlung von Schulden verzichten und die Gelder stattdessen in Entwicklungsprojekte fließen lassen würde, dann würde sie eine Art präventive Anti-Fluchtpolitik betreiben?

Schilder: Ja, so könnte man das ausdrücken. Das ist letztlich etwas, das wir Mitte der 1990er Jahre auf internationaler Ebene schon einmal hatten. Das gab es die internationale Entschuldungsinitiative "HIPC" (highly indebted poor countries initiative, Anm. der Redaktion). Die hat genau so eine Schuldenumwandlung für die Finanzierung sozialer Grunddienstprogramme zum Ziel gehabt. Und Deutschland hat eben auch so eine kleine Fazilität. Deutschland könnte den Entwicklungsländern bis zu 150 Millionen Euro im Jahr erlassen, wenn diese im gleichen Umfang die freiwerdenden Mittel in Entwicklungsprojekte investieren. Derzeit fließen aber nur 20 Millionen davon ab. Also nur ein Bruchteil dessen, was Deutschland wirklich tun könnte.

domradio.de: Die aktuelle Kampagne des "Erlassjahres" steht unter dem Motto "Debt20 - Entwicklung braucht Entschuldung - jetzt!". Was sind die konkreten Forderungen an die Gläubigerstaaten?

Schilder: Die "Dept20-Kampagne" bringt Stimmen aus 20 hochverschuldeten Ländern oder der Hochrisiko-Länder, die wir derzeit weltweit konstatieren, zusammen. Dort werden zivilgesellschaftliche, kirchliche und auch Stimmen aus der Wissenschaft gesammelt. Letztlich fordern diese Stimmen, fordert diese Kampagne die deutsche G20-Präsidentschaft im Jahr 2017 dazu auf, in den Gipfelbeschlüssen die sich aufbauenden Schuldenkrisen im globalen Süden als Gefahr für das Erreichen der globalen Entwicklungsziele anzuerkennen und die Schaffung eines umfassenden und rechtsstaatlich verbindlichen, internationalen Entschuldungsverfahrens auf den Weg zu bringen. Bislang wird das von Deutschland und anderen Industrieländern blockiert.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Klaus Schilder (MISEREOR)
Quelle:
DR