Deutsche Muslime zur Entwicklung in Ägypten

"Putsch ist das Gegenteil von Demokratie“

Der Zentralrat der Muslime ruft den Westen auf, die Machthaber in Ägypten zum sofortigen Gewaltverzicht gegen Demonstranten zu bewegen. Wenn das Blutvergießen weitergehe, verliere Ägypten und die Demokratie, warnt der Vorsitzende Aiman Mazyek.

Die Menschen aus Ägypten trauern (dpa)
Die Menschen aus Ägypten trauern / ( dpa )

KNA: Herr Mazyek, die Absetzung von Mohammed Mursi als ägyptischen Präsidenten betrachtet ein Teil der Muslime als Putsch - deshalb auch ihre anhaltenden Proteste. Wie sehen Sie das?

Mazyek: Der ohnehin schleppende demokratische Weg ist derzeit zum Erliegen gekommen und die staatliche Gewalt macht alles noch schlimmer. Ein Putsch ist das genaue Gegenteil von Demokratie. Das ist nicht nur ein muslimisches Verständnis, sondern ein allgemein anerkanntes. Furchtbar die vielen hundert Tote und Verletzte der letzten Tage durch die Staatsgewalt. Der Westen muss die neuen Machthaber zum sofortigen Gewaltverzicht gegen die Demonstranten auffordern. Wenn das Blutvergießen weitergeht, verliert Ägypten und die Demokratie.

KNA: Die Wahlen in Ägypten haben wie auch in anderen traditionellen islamischen Ländern radikale Gruppierungen an die Macht gebracht. Passen Muslime und Demokratie nur schlecht zusammen?

Mazyek: Demokratie bedeutet, Wahlergebnisse zu respektieren - auch wenn diese von einigen als Zumutung empfunden werden. Auch hierzulande versuchen immer wieder rechtsextremistische Gruppen, Fuß zu fassen, ohne dass wir gleich einen Staatsstreich herbeirufen. Die Muslimbruderschaft hätte direkt nach der Wahl eine Einheitsregierung aufstellen müssen - trotz aller taktischen Tricksereien der Opposition. Sie waren politisch unerfahrene Frischlinge, haben sich selbst überschätzt, alte Seilschaften unterschätzt und waren völlig abhängig vom alten Staatsapparat. Das sind ein paar Fehler zu viel.

KNA: Aber der Bewegung von Mursi geht es doch um konkrete religiöse Vorgaben wie die Scharia.

Mazyek: Ich kann mit solchen Angst-Schlagworten wenig anfangen. Fakt ist: Die Zeiten der Ideologisierung der Religion sind - das hat die Revolution eindrucksvoll gezeigt - vorbei. Religiöse Bewegungen begreifen schmerzhaft, dass sie nicht in erster Linie gewählt worden sind, weil sie den Islam propagierten, sondern weil sie über Jahrzehnte von alten Machthabern unterdrückt und verfolgt worden sind und die Einzigen waren, die beim Volk politischen Kredit und Vertrauen genossen. Ihnen hat man am ehesten zugetraut, die gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen.

KNA: Die Erwartungen wurden nicht erfüllt. War die Absetzung Mursis also doch legitim?

Mazyek: Auf der Basis welcher Spielregeln denn? Auf denen eines diktatorischen Regimes? Ja. In einer Demokratie wären allenfalls vorgezogene Wahlen der richtige Schritt gewesen oder aber die Bildung einer Einheitsregierung. Und auch in einer Demokratie kommen Verbesserungen nicht über Nacht. Und Zeit hatte Mursi ohnehin nicht gehabt. Man muss den arabischen Ländern die Möglichkeit geben, sich demokratisch und zivilgesellschaftlich zu entwickeln. Das ist ein langwieriger Prozess, der natürlich auch Rückschläge einschließt. Die Demokratie in Europa ist ja auch nicht vom Himmel gefallen.

KNA: Stößt denn Mursis Entmachtung nicht auf Zustimmung der Mehrheit in Ägypten?

Mazyek: Wenn sogenannte «Islamisten» eine Wahl gewinnen, kidnappen sie die Demokratie, wenn sogenannte «Säkularisten» einen Militärcoup organisieren, dann sichern sie das Land. Diese Sichtweise zu tolerieren, hieße den Ausverkauf der Demokratie zuzustimmen.

KNA: Es gibt also keine Gefahr durch einen «politischen Islam»?

Mazyek: Die Menschen in der arabischen Welt sind nicht in erster Linie für den Islam auf die Straße gegangen - denn der Großteil ist ohnehin muslimisch -, sondern für Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie. Natürlich bejaht ein richtiges Islamverständnis diese Grundlagen eines modernen gesellschaftlichen Lebens vollumfänglich. Ich halte nichts von den Kampfbegriffen «Islamismus» und «politischer Islam», weil sie das Werk der Propagandisten und Ideologen ist.

KNA: In der Türkei weist ein Minister die Kritik am autokratischen Führungsstil von Ministerpräsident Erdogan gleich als «Volksverhetzung» zurück. Wie steht es um die Meinungsfreiheit und die Rechte von Minderheiten in islamischen Ländern?

Mazyek: In den islamischen Ländern? Eine Antwort auf eine Frage zu einer Welt vom Maghreb bis nach Indonesien mit verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Kulturen und über 1,2 Milliarden Menschen kann ich leider nicht in zwei Sätzen geben - da muss ich passen (lacht). Was die Türkei betrifft, hat es dort in den letzten Jahren etliche Fortschritte in Sachen Minderheitsrechte gegeben. Zum Beispiel gibt das durch die AKP in Angriff genommene Stiftungsgesetz christlichen Kirchen ihr Eigentum zurück, das ihnen zuvor unter der Militärherrschaft entrissen worden ist, und verschafft ihnen so eine Existenzgrundlage. Das hat sich der Staat immerhin drei Milliarden Euro kosten lassen, was man nicht mal eben aus der Portokasse zahlt. Aber es gibt sicherlich noch einiges zu tun.

KNA: Die Bonner Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher behauptet, dass der Islam nicht zur Demokratie passe. Prinzipien wie die Gleichheit der Geschlechter oder die Gleichberechtigung religiöser Minderheiten seien nicht mit der Scharia zu vereinbaren.

Mazyek: Es gehört zum Geschäft mancher sogenannter Islamexperten, dass sie einer fundamentalistischen Lesart des Islam stets das Wort reden. Ich mache mir weder diese spezielle Lesart zu eigen, noch kommentiere ich groß, wenn andere meinen, mir meinen Glauben buchstabieren zu müssen.

KNA: Lassen sich Prinzipien wie freie Wahlen, Gewaltenteilung oder Meinungsfreiheit mit der islamischen Lehre begründen?

Mazyek: Selbstverständlich. Es gibt im Islam einige wenige Hinweise zur Gestaltung des Staatswesens, beispielsweise das Prinzip der Schura, der politischen Beratung und Abstimmung. Der Rest ist Auslegung. Und das heißt konkret: Die Muslime sind angehalten, moderne Regierungsformen zu studieren und zu erfassen und sich für bewährte Formen einzubringen. Ich wüsste keine andere tragfähige, als eine demokratische Regierungsform. Eine Diktatur ist jedenfalls durch den Islam schwerlich zu legitimieren.

Das Interview führte Andreas Otto


Quelle:
KNA