Religionssoziologin sieht "Corona-Weihnacht" auch als Chance

"Kleiner Lord" statt Gottesdienst?

An Weihnachten kommen Menschen in den Gottesdienst, die man dort sonst selten sieht. Eigentlich ist das eine Chance für die Kirche, sagt Religionssoziologin Anna Neumeier. Sterben Traditionen, wenn in diesem Jahr viele Gottesdienste ausfallen?

Eine Kerze im Gottesdienst zu Weihnachten / © Gleb Fomenko (shutterstock)
Eine Kerze im Gottesdienst zu Weihnachten / © Gleb Fomenko ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Welche Bedeutung hat es, dass Menschen, die sonst nie zur Kirche gehen, am Weihnachtsgottesdienst teilnehmen?

Anna Neumaier (Zentrum für angewandte Pastoralforschung ZAP, Bochum): Für Familien, die sonst nie in die Kirche gehen, ist der Weihnachtsgottesdienst oft der einzige Kontakt zur Kirche - sowohl zur Kirche als Institution, als auch zu ihrer Gemeinde vor Ort. Gut ein Viertel bis ein Fünftel der Deutschen gehen an Weihnachten in die Kirche. Das sind viele Millionen Menschen. Der Großteil davon geht nur an Weihnachten zur Kirche, oder zu ganz wenigen anderen Gelegenheiten im Jahr. Die Gründe für diesen einmaligen Besuch im Jahr sind natürlich unterschiedlich. Man kann sicher sagen, dass die familiäre Tradition eine große Rolle spielt. Übrigens zeigt sich, dass an Weihnachten auch ein gewisser Prozentsatz an Konfessionslosen und auch Angehörigen anderer Religionen, zum Beispiel Muslime, in die Kirche gehen. Das zeigt, dass Kirche da über ihre Ränder hinaus strahlt.

DOMRADIO.DE: Dieses Jahr könnte dieser Weihnachtsgottesdienst ausfallen. Fällt dann das Andenken an das Christkind und die christlichen Rituale in diesen Familien ganz aus?

Neumaier: Ich glaube, dass diese Gefahr besteht, wenn er ausfällt - und sie besteht auch, wenn er nicht ausfällt.

Es wird Leute aus Risikogruppen geben, die nicht kommen werden. Wir werden auf jeden Fall einige Leute haben, die zu Weihnachten gerne an einem Gottesdienst teilnehmen würden, aber das nicht können. Für die war das bisher ein fester Bestandteil der Weihnachtsfeier. Man kennt das ja von sich selbst: Diese Weihnachtstage sind ja innerfamiliär meistens ein ganz sorgsam durchkomponiertes Geschehen. Aus Sicht der Zuhausebleibenden wird man sich sicher überlegen, was man stattdessen macht.

Was ich spannend finde ist, welche Auswirkungen das auf lange Sicht hat und gerade diese fernstehenden Christen, wenn man sie so nennen will, dann im nächsten Jahr wiederkommen oder ob da Traditionen abbrechen. Ich kenne durchaus Familien, in denen man in einem Jahr aus einem bestimmten Grund nicht in den Gottesdienst gehen konnte und dann merkt: "Ach, guck, dann gucken wir stattdessen den Kleinen Lord im Ersten - das ist auch ganz nett." Dann verlieren Traditionen ihre Selbstverständlichkeit und in gewisser Weise auch ihren Zauber. Das muss dann für die Familie gar nichts Schlechtes sein. Aber es liegt natürlich nahe, dass die Kirchenbindung, gerade dieser Weihnachtsbesucherinnen und -besucher, dann ganz empfindlich getroffen wird.

DOMRADIO.DE: Was kann denn die Kirche tun, damit das nicht passiert?

Neumaier: Die Kirchen sind unter Zugzwang. Aber im Gegensatz zu Ostern hat man eigentlich einen gewissen Vorlauf. Ich habe viele gute Ideen gehört: vom organisierten Spazierweg zu einer Krippe über Open-Air-Gottesdienste zu vielen kurzen Gottesdiensten. Ein Faktor ist, dass all das denen, die haupt- und ehrenamtlich beteiligt sind, noch viel mehr abverlangen wird. Gerade diese Idee, mehr Gottesdienste anzubieten, stelle ich mir aus der Außenperspektive extrem herausfordernd vor.

Andersherum kann man vielleicht auch fragen: Warum erleben den Menschen den Gottesdienst, wenn sie nur Weihnachten hingehen, als wichtigen Teil Ihres ganzen Jahres – auch wenn Sie sonst kaum Bezüge zur Kirche haben? Das mag für einige die Atmosphäre sein: die Kinder beim Krippenspiel, der Gesang, dieser Moment der Besinnung. Da könnte man sich natürlich auch fragen, mit welchen Formaten man das dann bestmöglich ersetzen kann.

Das ist natürlich eine Perspektive, die die Anliegen dieser eher kirchenfernen Besucherinnen und Besucher in den Mittelpunkt stellt. Ich bin Religionssoziologin und es gibt fraglos bei der Konzeption eines guten Corona-Weihnachtsgottesdienstes noch andere Perspektiven zu berücksichtigen.

DOMRADIO.DE: Was empfehlen Sie den Kirchen?

Neumaier: Krisenzeiten sind Zeiten, in denen jetzt religiöse Tradition zur Hochform auflaufen könnte. Wir sehen das alle: Die allermeisten Menschen leiden gerade sehr unter einer außergewöhnlichen Belastung. Sie trauern, sie sorgen sich. Darunter sind viele Kirchenmitglieder. Der Weihnachtsgottesdienst ist jetzt eine einmalige Chance, dass man ohnehin einen potenziellen Kontaktpunkt hat. Ich denke, dass es wichtig ist, dass man glasklar und so früh wie möglich kommunizieren muss, was denn jetzt stattfinden kann.

Die Kommunikation muss die Leute auch erreichen. Es wäre jetzt zu optimistisch, auf einen Aushang an der Kirchentür zu setzen. Ich verstehe natürlich, dass das schwierig ist, weil im Moment alle auf Sicht fahren müssen und nicht genau wissen, was wir überhaupt machen können und was nicht.

Die zweite Sache ist, dass es garantiert Menschen geben wird, die aus Vorsicht nicht in die Gottesdienste kommen können – selbst, wenn sie in irgendeiner Form stattfinden. Da ist die Frage: Wie kann man den Kontakt halten? Kann man denen stattdessen einen Brief mit den wichtigsten Botschaften schreiben, die man auch im Gottesdienst rüberbringen will?

Vielleicht zusammen mit ein paar Vorschlägen, wie man zu Hause zum Beispiel in der Familie darüber reden kann? Kann man zum Beispiel auf ausgewählte Alternativangebote verweisen? Es gibt ja viel im Internet - aber es gibt eben auch eine wahnsinnige Fülle. Kann man da vielleicht Angebote kuratieren, die man den Menschen nahelegt? Kann man Aktionen vordenken, die von zuhause aus machbar sind? Ich glaube, da gibt es einen wahnsinnig großen Spielraum.

Das Interview führte Carsten Döpp.


Quelle:
DR
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