Theologe Söding über die Aktualität der Weihnachtsbotschaft

"Wir können nicht Weihnachten feiern und Grenzen dicht machen"

Weihnachten ist heute für viele ein Fest der Freude, Besinnung und Geschenke. Doch der Theologieprofessor Thomas Söding sieht dahinter eigentlich eine ziemlich skandalöse Geschichte. Warum, erklärt er im Interview.

Krippe und Weihnachtsbaum auf dem Petersplatz / © Cristian Gennari (KNA)
Krippe und Weihnachtsbaum auf dem Petersplatz / © Cristian Gennari ( KNA )

DOMRADIO.DE: Weihnachten erzählt in Ihren Augen von einer Hochschwangeren, die sich auf eine lange, beschwerliche Reise machen muss, von einem Paar, das keine Herberge findet und einem Kind, das im Stall geboren wird. Später folgen Flucht und Kindermord. Alles andere als idyllisch – und in diesem Jahr ganz besonders aktuell. Warum? Weil auch Jesus also ein Flüchtlingskind war und wir heute so viele Flüchtlingskinder auf der Welt haben, wie kaum je zuvor?

Professor Thomas Söding (Theologieprofessor in Bochum und Mit-Autor des Buches "Das Flüchtlingskind in Gottes Hand – Die Aktualität der Weihnachtsbotschaft"): Das ist sicher eine ganz wichtige Dimension: diese Nähe zu erkennen. Jesus ist das Königskind, das nicht in einem Palast, sondern der Überlieferung nach in einem Stall zur Welt kommt. Genau diese Nähe gilt es heute zu entdecken. Es kommt noch eine weitere Dimension hinzu. Dass nämlich auch die Erzählungen, die Evangelien, denen wir diese Erinnerung verdanken, aus Fluchtgeschichten, aus Vertreibungsgeschichten hervorgegangen sind und sozusagen das Gedächtnis von Flüchtlingen festhalten. 

DOMRADIO.DE: Was sagt das über den Gott der Christen, dass er seinen Sohn unter ärmlichsten Umständen und am Rand – sowohl geografisch als auch gesellschaftlich gesehen – Mensch werden lässt?

Söding: Das ist eine ganz alte und tiefe biblische Überzeugung, die nicht erst mit dem Christentum beginnt. Auch der Gott Israels, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, ist ein Gott, der nicht an einen festen Ort gebunden ist, der nicht an eine Institution gebunden ist, sondern der mit den Menschen unterwegs gewesen ist. Insbesondere auch mit den Menschen, die eben keine feste Bleibe hatten und die dann vielleicht gerade wegen ihrer Flucht und Vertreibung entdeckt haben: Gott ist überall, Gott ist mit uns, Gott ist der Gott für uns. Und genau diese Hoffnungsgeschichte wird lebendig, weil Jesus diese Hoffnung geteilt hat und weil sie auch die ganze Jesusgeschichte diesem lebendigen Gott verdankt. 

DOMRADIO.DE: Wenn wir also Weihnachten feiern und uns bewusst machen, wer dieser Jesus wirklich war, an dessen Geburt wir uns da erinnern, welche Konsequenz müssten wir für unsere Haltung Flüchtlingen gegenüber ziehen?

Söding: Die Konsequenzen sind ganz klar. Natürlich dürfen sich jetzt kein Dorf und keine Stadt einfach hemmungslos überfordern, davon sind am Ende alle negativ betroffen. Aber wir können nicht Weihnachten feiern und die Grenzen dicht machen. Grenzen braucht es, weil die Politik begrenzte Mittel hat. Also muss auch Verantwortung unterschiedlich organisiert werden, aber Grenzen müssen durchlässig sein. Und diese Durchlässigkeit von Grenzen zu organisieren, das ist sicherlich eine ganz wichtige Aufgabe.

Ich würde aber jetzt nicht nur auf die Menschen schauen, die flüchten. Wir müssen auch fragen: Warum setzen sie sich eigentlich in Bewegung? Und da gibt es zwei klassische Ursachen – Krieg und Not. An beiden Stellen müssen gerade auch die Solidarität zeigen, die Weihnachten feiern. Sowohl was die Kriegsursachenbegrenzung angeht als auch die Bekämpfung der Not vor Ort. Das hieße eben effektive Entwicklungspolitik. Und bei allen Anstrengungen, die es da in den vergangenen Jahren gegeben hat, ist da doch noch sehr viel Luft nach oben.  

DOMRADIO.DE: Die Heilige Familie ist eine Flüchtlingsfamilie. Und trotzdem sind es in Deutschland auch gerade die C-Parteien, die ihr Christlich-Sein schließlich schon im Namen tragen, die Familiennachzug verhindern und die Einwanderung von Flüchtlingen streng begrenzen wollen. Ist das nicht mindestens problematisch? 

Söding: Das ist auf jeden Fall problematisch. Das Christliche setzt schließlich stark auf die Familien. Wobei das Christentum auch die Fähigkeit hat, familiäre Strukturen aufzubrechen, dann nämlich wenn – wie das in traditionellen Gesellschaften sehr oft der Fall ist – die Familie über alles bestimmen will, also auch über den Beruf, über die Heirat, auch über die Religion. Da hat das Christentum von Anfang an eine enorm befreiende Kraft: dass zum Beispiel nicht der Vater der Familie darüber entscheidet, in welche Kirche die Tochter geht oder wo sie überhaupt hingeht. Dieses Unruhe stiftende Element, das muss bewahrt werden.

Aber das Ergebnis ist nicht, dass die Familienstrukturen aufgelöst werden, sondern dass sie neu zusammenfinden. Und zwar nicht nur bei denen, die zum christlichen Glauben dazu gehören. Deswegen sind die Kirchen an der Stelle ja auch ganz eindeutig positioniert, dass es diese Möglichkeit der Familienzusammenführung, des Familiennachzugs prinzipiell geben muss.

DOMRADIO.DE: Führt das alles nicht die Tatsache ad absurdum, dass es da heute in Deutschland gar nicht so wenige gibt, die sich einerseits auf die Tradition des christlichen Abendlandes berufen und dann ganz gern mal gegen Flüchtlinge hetzen?

Söding: Hetze gegen Flüchtlinge geht gar nicht. Aber das geht nicht nur aus christlichen Gründen nicht, sondern das sind eben auch allgemein menschliche Gründe, die eine solche Hetze natürlich völlig unmöglich sein lassen. Wir müssen schon etwas aufpassen, wie dieses Chiffre des christlichen Abendlandes gefüllt wird. Denn das Abendland lebt doch spirituell, religiös und ethisch vom Morgenland, vom Orient. Das Christentum kommt von dort, der Monotheismus ist außerhalb Europas aufgebrochen und hat Europa zutiefst verändert. Das christliche Abendland ist also eine Region mit tiefen Wurzeln, die auch in den Orient hineinreichen.

DOMRADIO.DE: Vielleicht zunächst noch mal die Frage: Warum fasziniert, warum rührt die Weihnachtsgeschichte tatsächlich ja so viele Menschen so sehr?

Söding: Weil es eine so einfache Geschichte ist, die eine so tiefe Bedeutung hat. Diese ganz einfache Geschichte lautet: Ein Kind wird geboren. Jeder, der Vater oder Mutter ist, kennt dieses überströmende Glücksgefühl, wenn ein neues Menschenkind das Licht der Welt erblickt. Was das Weihnachtsevangelium nun sagt, ist, dass das gleichzeitig eine Gottesgeschichte ist. In diesem Kind ist Gott selbst gegenwärtig. Und dass Gott nicht als mächtiger Krieger auf der Bildfläche der Weltpolitik erscheint, sondern dass er als kleines Kind das Licht der Welt erblickt, das allein ist eine Riesenbotschaft. Das ist einerseits eine Aufwertung von Kindern, und gleichzeitig die Aufforderung, über Stärke und Schwäche neu nachzudenken.

DOMRADIO.DE: Dass die Geschichte des Flüchtlingsjungen Jesus in einer Zeit, in der wir hier in Deutschland so viel und auch so drängend mit Geflüchteten und deren Integration zu tun haben, höchst aktuell ist, das haben wir gesagt. Auch der Ort des Geschehens, steht ja gerade wieder im Zentrum des Weltinteresses – die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch Trump, die Ost-Jerusalems durch Erdogan, der so unlösbar wie nie scheinende Nahostkonflikt – was hat das mit der Weihnachtbotschaft zu tun?

Söding: Die Weihnachtsgeschichte spielt von Anfang an in solch politisch aufgeregten Regionen. Sie hat auch durchaus immer ein insofern gefährliches Potenzial, als eine solche leidenschaftliche Geschichte eben halt auch starke Emotionen auf verschiedenen Seiten wecken muss. Aber in der Weihnachtsgeschichte wird auch immer deutlich: So wichtig einzelne Orte auch als Erinnerungsorte und als Gedenkorte sind, ist doch das Christentum eine Religion, die Grenzen überschreitet, die in der Lage ist, von einem bestimmten Ort an aufzubrechen und in diesem Aufbruch neue Entdeckungen zu machen. Und genau diese Aufbruchsgeschichten sind eigentlich die, in denen das christliche Herz schlägt. Und wenn man das christliche Herz schlagen lässt, dann würde man nicht bestimmte Orte so ideologisch hochziehen, wie das in Teilen der heutigen Politik der Fall ist.

DOMRADIO.DE: Sie lesen aus dem Weihnachtsevangelium auch noch eine Spannung zwischen Intimität und Universalität heraus. Können Sie das ganz kurz erklären?

Söding: Die Intimität liegt in der Geschichte von der Geburt eines Kindes. Es gibt einen Vater und vor allem die Mutter, die in der katholischen Kirche eine ganz besondere Verehrung genießt. Aber das, was mit einer solch kleinen, intimen Geschichte beginnt, das wird alle Welt angehen. Was klein beginnt, wird ganz groß herauskommen. Das ist in diesem kleinen Anfang grundgelegt. Und warum? Weil Gott selbst in dieser Geschichte gegenwärtig ist. Gott ist also ganz nah, ganz intim, aber gleichzeitig ist es ein Gott für alle. Das muss man verstehen, das muss man hoffen, das muss man verkünden. Und dann sind wir auf den Spuren, auf denen das Urchristentum entstanden ist. 

DOMRADIO.DE: Vor dem Hintergrund dessen, was wir jetzt besprochen haben: Als was für ein Fest können und sollten wir Weihnachten im Jahr 2017 feiern?

Söding: Das Wichtigste wäre wohl erst einmal, wirklich zu feiern. Der 24. Dezember ist in diesem Jahr ein Sonntag und es gab allen Ernstes die Debatte darüber, wie lange die Geschäfte an diesem Tag geöffnet sein sollten und wer wie lange arbeiten sollte, damit möglichst viel Umsatz gemacht wird. Das kann ich nicht als einen Beitrag zur Kultur des Abendlandes verstehen. Aber zur Ruhe zu kommen, sich zu konzentrieren auf das, was das eigentlich gefeiert wird, das ist doch das Beste, was wir an der Stelle machen können. Mein Rat ist: ganz traditionell zur Kirche zu gehen, die Ohren und die Augen aufzusperren und alle Sinne zu öffnen für das, was da gefeiert wird und was da auch als Evangelium verkündet wird von der Geburt Jesu und von den Hirten, die das als erste mitbekommen haben.  

Das Interview führte Hilde Regeniter. 

Thomas Söding

Thomas Söding wuchs in Hannover auf, er machte sein Abitur in Bad Harzburg im Harz, wo er auch seine Frau kennenlernte, "der beste Moment meines Lebens", wie er bis heute sagt. Sie leben in ihrer Wahlheimat Münster, weil laut Söding "hier vieles zusammenpasst: eine kleine Großstadt, eine katholische Kirche mit Kultur, eine Stadt der Wissenschaft mit Bodenhaftung". 

Prof. Dr. Thomas Söding / © Peter Bongard (Zentralkomitee der deutschen Katholiken)
Quelle:
DR