Eine der größten Suppenküchen der USA

Arm inmitten des Reichtums

Nirgendwo sonst in den USA lässt sich der tiefe Graben zwischen Reich und Arm so klar beobachten wie in New York. Jeder fünfte Bewohner der Metropole gilt offiziell als arm. Vielen hilft ein zentral gelegenes Angebot der Kirche – auch zu Weihnachten.

Autor/in:
Stefanie Ball
 (DR)

Sie steht am liebsten in "the line", in der Ausgabe. "Da gibt es immer etwas zu tun, und es muss schnell gehen", sagt Barbara. Seit fünf Jahren hilft die Rentnerin als Freiwillige in einer der größten Suppenküchen der USA, der Holy Apostles in New York City. Mindestens 1.200 Maiskolben legt sie an diesem Mittag im Dezember auf einen Teller, schiebt ihn zur Nachbarin weiter; die füllt Reis auf; zuletzt kommen noch Fleisch und eine Soße dazu. Draußen vor der Kirche warten die Menschen, die meisten sind Männer, die meisten Schwarze. Um kurz nach neun Uhr sind die ersten da, postieren sich vor dem Gittertor. Viele sind obdachlos, andere haben eine Wohnung, für die sie so viel Miete zahlen, dass für das Essen kaum noch etwas übrig bleibt.

New York City ist teuer. Eigentlich nichts für Leute wie Sekou, die keine Ausbildung haben und keinen Job finden. "Ich versuche trotzdem, positiv zu denken", sagt er. "Immerhin, ich lebe." Bill, der heute neben ihm sitzt, ist einer der wenigen Weißen hier. Er tippt auf Sekous Maiskolben, ob er ihn haben könne. Sekou nickt, und Bill holt eine Plastikdose aus seiner Tasche, legt das übrig gebliebene Essen hinein. Er erzählt, dass er mal viel Geld als Berater verdient habe. "Aber jetzt bin ich alt und arm." Er wohne gegenüber der Kirche, komme jeden Tag, von Montag bis Freitag. Am Wochenende stehen da, wo sich jetzt dunkel gekleidete Gestalten mit krummen Rücken über die großen runden Tische beugen, wieder die Kirchenbänke.

Graben zwischen Reich und Arm so

Die Holy Apostles, die der anglikanischen Episkopalkirche in den USA angehört, steht seit 160 Jahren in Chelsea, derzeit einer der angesagten Stadtteile New Yorks. Vor einigen Jahren zogen die Galeristen von Soho hierher. Ihnen folgten die Künstler, Edelrestaurants und die Lofts in ehemaligen Lagerhallen. Die Preise, die die Galeristen für ihre Bilder verlangen, würden Sekou schwindeln lassen.

Nirgendwo sonst in den USA lässt sich der tiefe Graben zwischen Reich und Arm so klar beobachten wie in New York City. In der 9th Avenue die Suppenküche; in der Madison Avenue, nur wenige Blöcke entfernt, die Läden von Gucci, Prada, Versace. Am Central Park wird gerade ein neues Hochhaus gebaut. Der Kaufpreis für ein Apartment: 50 Millionen Dollar (Tageskurs 38 Millionen Euro). Das würde reichen, um die Suppenküche von Holy Apostles 20 Jahre lang zu finanzieren.

Jeder fünfte New Yorker gilt offiziell als arm. In einer der reichsten Städte der Welt schlafen Nacht für Nacht 50.000 Menschen in einer Obdachlosenunterkunft, doppelt so viele wie Ende der 90er Jahre. Die Arbeitslosenquote liegt bei über neun Prozent. Und genaugenommen sind es noch mehr. Denn von denen, die arbeiten, verdienen viele nicht genug. 2,9 Millionen New Yorker haben einer Statistik zufolge Schwierigkeiten, das Essen für sich und ihre Familie zu finanzieren - ein Anstieg um 60 Prozent seit 2003. Und das in einer Stadt, in der Essengehen zu den Lieblingsbeschäftigungen gehört. Es gibt 24.000 Restaurants; die meisten sind mittags wie abends voll. In Manhattan bringen die fünf Prozent Bestverdiener in der Einkommenshierarchie im Schnitt jährlich 391.000 Dollar (297.000 Euro) nach Hause - 40 mal mehr als die fünf Prozent am unteren Ende der Verdiensthierarchie.

Hoffen auf die Zeit nach der Hilfe

Rudy hofft, dass er nicht mehr lange auf Holy Apostles angewiesen ist. Rudy ist Pfleger; vor einem Jahr hat er seinen Job verloren. Noch erhält er Unterstützung vom Staat, doch die läuft bald aus. So etwas wie Hartz IV gibt es in den USA nicht; dann kommt nur noch ein großes Nichts. Oder die Suppenküchen. Rudy holt eine Bewerbung aus einem Umschlag.

Ein langer Lebenslauf, aus dem viel Erfahrung spricht. Doch Rudy ist 50 Jahre alt, und es gibt Tausende wie ihn, die Arbeit suchen. Die Bewerbung will er gleich in einem Krankenhaus abgeben. "Ich weiß, es wird klappen", sagt er - wenn nicht jetzt, dann beim nächsten Mal. Rudy steht auf, bringt sein Tablett zur Abgabestelle, verlässt die Kirche. Und er hofft, es ist zum letzten Mal.


Quelle:
KNA