Schwere Krawalle in Tunesien

Aufstand im Musterland

Mehr als 20 Menschen sind bisher bei den schweren Unruhen zwischen Demonstranten und Polizei in Tunesien getötet worden. Seit 17. Dezember protestieren dort vor allem Jugendliche gegen die hohe Arbeitslosigkeit und für mehr politische Freiheit. Der Leiter des dortigen Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, Ralf Melzer, spricht im Interview über die Situation in dem nordafrikanischen Land.

 (DR)

KNA: Herr Melzer, wie ist im Augenblick die Lage auf den Straßen?

Melzer: Angespannt. Gestern wurde bekannt, dass der Innenminister abgelöst worden ist, während im Zentrum von Tunis eine Kundgebung stattfand. Seit einigen Tagen beschleunigen sich hier die Ereignisse extrem. Die Polizeipräsenz ist sehr groß, Versammlungen sollen sofort im Keim erstickt werden. Trotzdem kommt es in fast allen Landesteilen immer wieder zu spontanen Kundgebungen von jungen Leuten. Dabei ist die Gefahr für die Demonstranten natürlich sehr hoch, weil scharf geschossen wird. Überall hat sich Unzufriedenheit angestaut. Das Land ist in Aufruhr.



KNA: Perspektivlose Jungakademiker gegen einen unfähigen Staat - kann man den Protest auf diese Formel bringen?

Melzer: So begann es zumindest, auch wenn man Tunesien nicht wirklich als "unfähigen Staat" bezeichnen kann. Aber ein Drittel der Uni-Absolventen ist arbeitslos und hat kaum Chancen auf einen adäquaten Job, auch weil die Industrie immer noch stark auf Geringqualifizierte ausgerichtet ist. Und auch unter den nichtakademischen jungen Leuten ist die Erwerbslosenquote hoch.

Inzwischen haben sich aber selbst Vertreter der oberen Mittelschicht wie Anwälte und Ärzte den Protesten angeschlossen. Und bei den Trauerzügen für die Getöteten versammelte sich ein Querschnitt der Bevölkerung. Insgesamt gibt es viel Verständnis für die Probleme der Jugend.



KNA: Dabei galt Tunesien lange als Musterknabe Nordafrikas.

Melzer: Das Land ist das fortschrittlichste im Maghreb. 2010 lag das Wirtschaftswachstum bei 3,8 Prozent, die Einschulungsquote bei 98 Prozent - außergewöhnlich für ein arabisches Land. Laut Transparency International ist die Korruption im Vergleich mit den anderen nordafrikanischen Staaten noch die niedrigste.



KNA: Aber?

Melzer: ...aber trotz der unbezweifelbaren Entwicklungsfortschritte des Landes sind die Probleme groß: Der tunesische Mittelstand bröckelt, die Schere zwischen Reich und Arm ist eindeutig größer geworden, und die Universitäten produzieren immer mehr Akademiker, die der Arbeitsmarkt nicht absorbieren kann. Und dies alles bei stark eingeschränkten bürgerlichen Freiheiten.



KNA: Welche Rolle spielt denn neben der wirtschaftlichen Unzufriedenheit der Ruf nach mehr politischer Freiheit?

Melzer: Er wird immer lauter, je schärfer der Staat gegen seine Bürger vorgeht. "Kein Wachstum ohne Freiheit", war auf einem Transparent zu lesen. Ohne diese politische Dimension wäre die Solidarisierung mit den Protesten auch nicht so groß. Die Tunesier wollen endlich ihre Meinung sagen dürfen, ob auf der Straße oder bei Facebook. Die Regierung hat darauf bislang keine überzeugenden Antworten gegeben. In seiner jüngsten Rede versprach Präsident Ben Ali die Schaffung von 300.000 neuen Jobs bis Ende 2012, bezeichnete aber zugleich die Demonstranten als "Bande vermummter Ganoven". So lässt sich die Situation nicht beruhigen.



KNA: Formiert sich da eine Umsturzbewegung gegen die Regierung?

Melzer: Wenn die Polizeigewalt andauert und keine eindeutigen Signale der Regierung kommen, ist das nicht auszuschließen. Die Protestbewegung organisiert sich bislang noch völlig dezentral und wird von niemandem wirklich gesteuert oder kontrolliert, weder von einer charismatischen Einzelfigur, die sich als Nachfolger ins Spiel bringen könnte, noch von den Gewerkschaften oder einer Partei. Die Gewerkschaften haben zwar zum Generalstreik aufgerufen, aber es ist nicht ganz klar, mit welchen konkreten Forderungen. Mehr Jobs und mehr politische Rechte ist bisher alles, was im Raum steht.



KNA: Wie stark ist der Einfluss islamistischer Kräfte?

Melzer: Ihr Rückhalt in der Bevölkerung ist schwer einzuschätzen, und die islamistische Partei ist verboten. Die gegenwärtige Bewegung hat mit Islamismus gar nichts zu tun. Wie in der ganzen islamischen Welt gibt es aber auch in Tunesien eine Rückkehr des Religiösen in den öffentlichen Raum, und zwar unter konservativen Vorzeichen. Andererseits sind viele Tunesier sehr westlich orientiert und stolz auf gesellschaftliche Fortschritte. Besonders die Frauen spielen da eine wichtige Rolle. Sie sind besser ausgebildet - mehr als die Hälfte der Studierenden ist weiblich -, besser organisiert und haben mehr Rechte als Frauen in anderen nordafrikanischen Ländern. Insgesamt also ein relativ starkes Bollwerk gegen islamistische Kräfte.



Interview: Christoph Schmidt