Die Sozialenzyklika "Centesimus annus" erschien vor 30 Jahren

Die klare Vision des Karol Wojtyla

Der Papst aus Polen ist in seiner Heimat bis heute hoch geschätzt. Johannes Paul II. hatte bei der Wende von 1989 schnell erkannt, was kommt. Doch verhindern konnte er die Bilder und Erfolgskonzepte des Kapitalismus nicht.

Autor/in:
Alexander Brüggemann
Papst Johannes Paul II. unterschreibt eine Enzyklika im Vatikan / © KNA-Bild (KNA)
Papst Johannes Paul II. unterschreibt eine Enzyklika im Vatikan / © KNA-Bild ( KNA )

Papst Johannes Paul II. war ein weitsichtiger Mann. Das zeigt sich nicht nur in seinem prophetischen Aufruf bei der Amtseinführung im Oktober 1978: "Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus!", seiner impliziten Kampfansage an das kommunistische System. Vielleicht mehr noch zeigt es sich an der zentralen Botschaft seiner Sozialenzyklika "Centesimus annus" vom 1. Mai 1991.

Vor 30 Jahren, bald nach dem gefeierten Zusammenbruch des Kommunismus, hatte der Antimarxist aus Krakau längst begriffen, was seinen Landsleuten und seinen slawischen Mitbrüdern in Mittel- und Osteuropa als nächste Bedrohung ins Haus stand: der ungebremste Materialismus des siegreichen Westens.

Verfechter der Gerechtigkeit

Der Papst aus Polen rechnete in "Centesimus annus" 1991 keineswegs nur mit dem untergegangenen kommunistischen System ab, sondern auch mit den Auswüchsen eines ungezügelten Kapitalismus. Und erstmals wurde in dieser Deutlichkeit die positive Rolle des Unternehmertums für eine funktionierende Volkswirtschaft gewürdigt. Verfechter des klassischen Konzepts einer Sozialen Marktwirtschaft lasen das Dokument vor allem als ein päpstliches Bekenntnis zu dieser Idee.

Kurz nach der politischen Wende in Mittel- und Osteuropa überraschte der Papst aus Polen mit der These, der Kapitalismus sei nach dem Untergang des Kommunismus nicht notwendig das einzige verbliebene Modell wirtschaftlicher Organisation. Das passte nicht so recht in das triumphalistische Gefühl der Zeit. Und doch führt von seinem gedanklichen Querschuss von 1991 eine gerade Linie zu den Mahnungen von Papst Franziskus von heute, Wirtschaften als eine reine Ellbogenveranstaltung abzulehnen und dagegen Kategorien der Gerechtigkeit zu setzen.

Auch eine weitere Bruchlinie stand dem polnischen Intellektuellen Karol Wojtyla damals deutlicher vor Augen als den meisten, nämlich die zwischen traditioneller christlicher Volksfrömmigkeit und einer "atheistischen Gesellschaft", grundgelegt in den "-Ismen" des frühen 20. Jahrhunderts: der Russischen Oktoberrevolution 1917, Faschismus und Nationalsozialismus und dem Sieg der Roten Armee 1945. In Tschechien, der DDR und Albanien war die Kirchenverfolgung recht durchschlagend. Vor allem in Polen, Kroatien, der Slowakei und in Ungarn konnten sich noch volkskirchliche Strukturen erhalten. Die Verwerfungen beschäftigen die Ortskirchen bis heute.

Keinerlei Unterwerfungen mehr

Der Sturz des Kommunismus war zwar vordergründig ein Triumph für Johannes Paul II. - und vor Ort zugleich eine "Stunde Null". Vielerorts begann ein aufopferungsvoller Wiederaufbau, geistig, personell wie materiell. Einst stattliche Gebäude wie frühere Klöster oder Bischofspaläste wurden vom Staat als Ruinen zurückerstattet; etwa als Ausbildungsstätten für einen Welt- oder Ordensklerus, der nicht hoffen konnte, in der postsozialistischen Gesellschaft materielles Wohlergehen oder eine christliche Befindlichkeit vorzufinden.

Doch im Gegenteil schlug und schlägt der Kirche auch säkularistischer Argwohn entgegen, sie wolle sich auf demokratischem Wege neue Privilegien erschleichen, etwa durch Entschädigungszahlungen für kommunistische Enteignungen. Viele Jugendliche - und viele menschlich Geschädigte des Sozialismus - sind heute nicht mehr bereit, ihre neue Freiheit durch eine vermeintliche Unterwerfung unter eine christliche Werteordnung wieder einzubüßen.

Wertkonservative Regierungen wie in Polen, Slowenien oder Ungarn haben es - auch durch diverse eigene Verfehlungen und/oder allzu rigides Vorgehen - schwer, Anliegen wie Lebens- oder Sonntagsschutz bei der eigenen Bevölkerung durchzubringen; oder im Westen damit ernstgenommen zu werden, wo sie vor allem als eines wahrgenommen werden: als undankbare "katholische Rechtsausleger".

Religiöses Vakuum

30 Jahre nach der Wende und nach dem Zerfall der Sowjetunion und Ex-Jugoslawiens bietet sich von Prag bis Petersburg immer dasselbe Bild: sexy Outfits, Smartphones, Luxuslimousinen. Mehr Schein als Sein; nur mit Statussymbolen bist du dabei. Wo die vermeintlichen Wege zu sozialem Erfolg eingeschlagen werden, verhallen Cassandra-Rufe der Kirchen ungehört. Das sozialistische Menschenbild hat ein weitreichendes religiöses Vakuum hinterlassen, das durch "Influencer", "Freunde" und "Follower" in den Sozialen Medien gefüllt wird.

Ähnlich wie die Slawenapostel Kyrill und Method vor über 1.000 Jahren müssen die Missionare von heute versuchen, "auf Wasser zu schreiben", ganz von vorne anzufangen. Und manches christliche Aufblühen könnte sich in einer gesellschaftlich feindlichen Umgebung am Ende als eine trockene Blüte erweisen. Johannes Paul II. hat das frühzeitig gesehen und befürchtet. Verhindern konnte er es nicht. Der Papst aus Polen ist in seiner Heimat bis heute hoch geschätzt. Befolgt wird er immer weniger.


Wird nicht nur in Polen verehrt: Der verstorbene Papst Johannes Paul II. / © Photoillustrator (shutterstock)
Wird nicht nur in Polen verehrt: Der verstorbene Papst Johannes Paul II. / © Photoillustrator ( shutterstock )
Quelle:
KNA