Publizist über Beinahe-Heilige und Qualitätsstandards

"Wie in der Autoproduktion"

Christoph Kolumbus und König Ludwig XVI. teilen das gleiche Schicksal: In beiden Fällen scheiterte der Versuch, sie zu Heiligen zu machen. Der Publizist Jerome Anciberro ist diesen und anderen Episoden auf den Grund gegangen.

Heiligsprechung im Vatikan / © Cristian Gennari (KNA)
Heiligsprechung im Vatikan / © Cristian Gennari ( KNA )

KNA: Warum braucht die Kirche eigentlich Heilige?

Jerome Anciberro (Französischer Publizist, früherer Chefredakteur der Zeitschriften "Temoignage chretien" und "La Vie" und Autor des Buches "Presque saints!", Beinahe heilig): Um ihren Anhängern beispielhafte Lebenswege und -modelle vorzuschlagen.

KNA: Und warum braucht es Selig- und Heiligsprechungsprozess, die oft Jahre dauern?

Anciberro: Um sicherzugehen, dass die Vorbilder gewissen Standards genügen. Ein bisschen ist das so wie in der Autoproduktion. Da werden neue Modelle auch erst mal gründlich geprüft, bevor sie auf den Markt kommen. Zu einem bestimmten Moment der Kirchengeschichte hat man entschieden, dass Heilige einen solche Qualitätskontrolle durchlaufen müssen.

KNA: Was waren die Gründe dafür?

Anciberro: Man hatte plötzlich immer mehr Heilige; die Kirche geriet unter Rechtfertigungsdruck, und die Gläubigen verlangten zugleich weiter nach Vorbildern, von denen sie Gnade, Fürsprache, Wunder erbitten konnten.

KNA: Welche Rolle spielen Archive bei Selig- und Heiligsprechungsprozessen?

Anciberro: Die Verfahren von Heilig- und Seligsprechungen sind im Lauf der Jahrhunderte immer komplizierter und strenger geworden - sowohl aufgrund theologischer wie auch seelsorglicher und historischer Anforderungen. Wenn man sich nun dem Leben eines möglichen Heiligen nähern will, sind Archive wie die im Vatikan unverzichtbar.

KNA: Dort wollen Forscher in den kommenden Jahren die unlängst freigegebenen Akten zu Papst Pius XII. auswerten, ebenfalls ein Heiliger im Wartestand. Was lässt sich davon erwarten?

Anciberro: Der Großteil der Historiker, die sich auf das Leben von Pius XII. spezialisiert haben, glaubt nicht, dass es echte Sensationen geben wird, was seine Rolle im Zweiten Weltkrieg und seine Haltung zum Holocaust anbelangt. Ich denke, dass man aus den jetzt freigegebenen Unterlagen einzelne Entscheidungen besser nachvollziehen kann. Vermutlich aber werden wir mehr über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Tod Pius XII. erfahren - denn dazu gab es bislang kaum Untersuchungen.

KNA: Sie selbst haben sich für Ihr Buch in den Archiven der Societe des Bollandistes in Brüssel umgesehen. Was verbirgt sich dahinter?

Anciberro: Diese Einrichtung für Selig- und Heiligsprechungen gibt es seit dem 17. Jahrhundert. Ein wahres Paradies für Geschichtswissenschaftler und Kirchenhistoriker. Die historischen Forschungen, die dort gemacht werden, sind massgebend, sowohl in der wissenschaftlichen Gemeinschaft als auch bei den offiziellen Einrichtungen der katholischen Kirche, die sich mit diesen Angelegenheiten beschäftigen.

KNA: Warum haben Sie ausgerechnet gescheiterte Heiligsprechungsprozesse unter die Lupe genommen?

Anciberro: Weil diese Fälle bislang nur selten untersucht worden sind. Man schaut ja normalerweise auf die erfolgreich abgeschlossenen Vorgänge - dabei sind die Geschichten hinter den gescheiterten Prozessen mindestens genauso spannend.

KNA: Können Sie das an einem Beispiel veranschaulichen?

Anciberro: Nehmen wir den Seefahrer Christoph Kolumbus. Der Anstoß zur Selig- beziehungsweise Heiligsprechung ging im 19. Jahrhundert von Frankreich aus. Kolumbus' Biograf Antoine-Francois-Felix Roselly de Lorgues war mehr oder weniger von Papst Pius IX. beauftragt worden, die Angelegenheit voranzubringen. De Lorgues' Netzwerk bestand naturgemäß aus vielen Franzosen, die sich dem Vorstoß anschlossen.

KNA: Was passierte dann?

Anciberro: In einem nächsten Schritt formierten sich die Reihen der Gegner. De Lorgues unterstellte ihnen, sie seien in Wahrheit neidisch auf sein literarisches Werk. Ein anderer Vorwurf besagte, dass sich unter den Gegnern Freimaurer befänden oder solche, die nicht wollten, dass sich die katholische Kirche mit Kolumbus' Ruhm schmückt.

KNA: Und was entgegneten die Befürworter einer Heiligsprechung?

Anciberro: Sie argumentierten, dass Kolumbus durch seine Entdeckungen ermöglicht habe, die Hälfte des Planeten zu evangelisieren.

KNA: Die Sache verlief trotzdem im Sande - genau wie die Causa König Ludwigs XVI., der 1793 unter der Guillotine starb.

Anciberro: Hier stellte sich zunächst mal die Frage: Ist der König ein Märtyrer des Glaubens oder nicht? Schließlich ebnet ein Martyrium den Weg zur Ehre der Altäre. Anfangs waren die höchsten Kirchenvertreter in und außerhalb Frankreichs für die Heiligsprechung.

KNA: Aber?

Anciberro: Bei Ludwig XVI. standen bald schon andere Erwägungen im Vordergrund. Er starb während der Revolution nach einem Prozess vor einem Tribunal, das das französische Volk repräsentieren sollte. Es setzten sich die Pragmatiker durch, die sowohl den Tod des Königs als auch die politischen Umstände in Betracht zogen. Musste man einen Repräsentanten eines untergegangenen Systems ehren, wenn mit Napoleon bereits ein Herrscher ganz anderen Typs die Szene betreten hatte? Nein, lautete die Antwort.

KNA: Bleiben wir noch einen Moment bei der Politik. Inzwischen gibt es unter den sogenannten Patronen Europas fast schon eine Inflation. Bei Karl dem Großen fängt es an, demnächst könnten Alcide De Gasperi, Robert Schuman und Johannes Paul II. dazukommen.

Anciberro: Da muss man ein wenig genauer hinschauen. Karl der Große ist ein symbolischer Patron Europas, aber kein offizieller im Sinne der katholischen Kirche. Man weiß auch nicht ganz genau, ob er ein "echter" Heiliger ist. Er wurde nämlich durch einen Gegenpapst heiliggesprochen. Anders verhält sich die Sache bei Benedikt von Nursia, den Slawenaposteln Kyrill und Method sowie Brigitta von Schweden, Katharina von Siena und Edith Stein. Sie alle wurden von den Päpsten tatsächlich zu Schutzpatronen Europas erklärt.

KNA: Für De Gasperi und Robert Schuman ...

Anciberro: ... laufen Seligsprechungsverfahren. Und bei Johannes Paul II. gibt es lediglich Bestrebungen etwa der polnischen Bischöfe, ihn zum Schutzpatron des Kontinents zu erklären.

KNA: Kann das die EU in diesen stürmischen Zeiten voranbringen?

Anciberro: Ich glaube nicht, dass hohe EU-Beamte davon Kenntnis nehmen. Aber es kann ja auch nichts Schlechtes sein, wenn die Kirche ihren Teil beiträgt, die europäische Idee unter ihren Anhängern zu verbreiten.

KNA: Allgemein hat die Zahl der Heiligen in den vergangenen Jahrzehnten enorm zugenommen. Woran liegt das?

Anciberro: Das ist eine Konsequenz des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die Heiligen sollten der globalen Verbreitung des katholischen Glaubens Rechnung tragen und auch aus anderen Weltgegenden kommen. Auch sollten mehr Laie darunter sein. Ein Marketing-Experte würde vielleicht sagen: Die Kirche versucht, ihr Angebot zu diversifizieren, den unterschiedlichen Bedürfnissen der Verbraucher, also der Gläubigen, entgegenzukommen.

Das Interview führte Joachim Heinz.


Jerome Anciberro / © William Alix (KNA)
Jerome Anciberro / © William Alix ( KNA )

Heiligsprechungen auf dem Petersplatz / © Giogio Onorati (dpa)
Heiligsprechungen auf dem Petersplatz / © Giogio Onorati ( dpa )
Quelle:
KNA