Sexueller Missbrauch und katholische Kirche – Eine Chronologie

"Schwere Fehler" und "schwerwiegende Fälle"

Die Missbrauchskandale in den USA, Irland und Chile, Australien, aber auch in Deutschland haben dem Ansehen der katholischen Kirche massiv geschadet. Den Vatikan beschäftigt die Aufarbeitung schon seit vielen Jahren. Eine Zusammenfassung.

Eine junge Frau betet für die Opfer von Missbrauch durch Kirchenmitglieder / © Fabrice Caterini-Inediz (KNA)
Eine junge Frau betet für die Opfer von Missbrauch durch Kirchenmitglieder / © Fabrice Caterini-Inediz ( KNA )

1983: Das bis heute gültige Kompendium des Kirchenrechts, der Codex Iuris Canonici (CIC) von 1983, übernimmt aus der Vorgängersammlung von 1917 die Umschreibung sexuellen Fehlverhaltens als Verstoß gegen das Sechste Gebot ("du sollst nicht ehebrechen"). Kanon 1.395 § 2 des Kirchenrechts bezieht sich ausschließlich auf Priester und Ordensangehörige und schreibt "gerechte Strafen" bis zur Entlassung aus dem Klerikerstand vor.

1994: Die irische Regierung Albert Reynolds stürzt über den Fall eines pädophilen Priesters, der nicht ausreichend strafverfolgt wurde.

1999: Irlands Regierung entschuldigt sich offiziell bei allen Opfern von Kindesmisshandlungen und sexuellem Missbrauch und stellt fünf Millionen Euro zur Verfügung. Die Fälle in kirchlichen und staatlichen Heimen reichen bis in die 1940er Jahre zurück.

März 2001: Berichte über sexuellen Missbrauch von Ordensfrauen durch Priester, vor allem in Afrika, sorgen für Aufsehen.

April 2001: Der Papsterlass "Sacramentorum sanctitatis tutela" (Der Schutz der Heiligkeit der Sakramente) legt fest, dass Sexualdelikte von Priestern fortan in die Zuständigkeit der vatikanischen Glaubenskongregation fallen. Das Schreiben ordnet sexuellen Missbrauch den sehr schwerwiegenden Vergehen, den "delicta graviora" zu. Für einschlägige Fälle sind die härtesten kirchenrechtlichen Disziplinarstrafen bis hin zur Laisierung vorgesehen. Zudem führt der Erlass eine Verjährungsfrist von zehn Jahren ein.

Mai 2001: Der Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger, erläutert im Schreiben "De delictis gravioribus" die neue Rechtslage; es wird ausschließlich in lateinischer Sprache publiziert. Nach Inkrafttreten werden der Kongregation weltweit etwa 3.000 Beschuldigungen wegen sexueller Übertretungen von Diözesan- und Ordenspriestern aus den vergangenen 50 Jahren gemeldet.

2002: Nach Bekanntwerden zahlreicher Missbrauchsfälle in Boston und anderen Diözesen verabschiedet die US-Bischofskonferenz strenge neue Richtlinien. Diese "Null-Toleranz-Politik" beinhaltet unter anderem eine Verlängerung der Verjährungsfrist und automatische Laisierung nach erwiesenem Missbrauch. Die neuen Richtlinien werden Partikularrecht für die Kirche in den USA, sie gelten komplementär zu den Bestimmungen des CIC. Dagegen sind die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz vom September 2002 rechtlich unverbindliche Empfehlungen.

Der seit 1998 laisierte Bostoner Priester John Geoghan, dem 150 Missbrauchsfälle an Jugendlichen zur Last gelegt werden, wird zu langjähriger Haft verurteilt. Es taucht die Frage nach einer Verschleierung von Fällen durch Kardinal Bernard Law auf. Der Bostoner Erzbischof tritt im Dezember zurück und erhält eine Stelle in Rom.

Januar 2002: Die katholischen Orden in Irland wollen Opfer sexuellen Missbrauchs mit 128 Millionen Euro entschädigen.

November 2002: Johannes Paul II. bevollmächtigt die Glaubenskongregation, in Ausnahmen von der Verjährungsfrist abzusehen, um auch Altfälle behandeln zu können.

April 2008: In den USA trifft Benedikt XVI. erstmals mit Missbrauchsopfern zusammen. Der Papst betet mit ihnen und hört ihren Schilderungen zu. Im Juli gibt es in Australien eine weitere Begegnung mit Opfern.

2009: In der katholischen Gemeinschaft "Legionäre Christi" wird ein System von Lügen und Missbrauch offenbar, das der 2008 gestorbene Gründer Marcial Maciel Degollado aufgebaut hatte. Nach Bekanntwerden von Sexualstraftaten Maciels ordnet Benedikt XVI. eine umfassende Inspektion durch den Vatikan an und tauscht die gesamte Ordensleitung aus. Die Gemeinschaft erarbeitet über Jahre neue Statuten.

Januar 2010: Der damalige Leiter des Canisius-Kollegs der Jesuiten in Berlin, Pater Klaus Mertes, bringt die Aufdeckung des Missbrauchsskandals in der deutschen Kirche ins Rollen.

Februar 2010: Die deutschen Bischöfe entschuldigen sich. Der Trierer Bischof Stephan Ackermann wird Sonderbeauftragter für Missbrauchsfälle. Eine Opfer-Hotline wird eingerichtet.

März 2010: Der Vatikan veröffentlicht einen Papstbrief zu Missbrauchsfällen in Irland. Darin bittet Benedikt XVI. die Opfer um Verzeihung und ermahnt die Täter und kirchlichen Entscheidungsträger, Verantwortung für ihre Fehler zu übernehmen.

April 2010: Der Vatikan veröffentlicht eine "Verständnishilfe" für die Vorgehensweise der Glaubenskongregation bei Missbrauchsvorwürfen. Demnach können Priester "in sehr schwerwiegenden Fällen" vom Papst auch ohne kirchenrechtliches Verfahren laisiert werden. Die staatlichen Gesetze zur Anzeige von Straftaten bei den zuständigen Behörden seien "immer zu befolgen".

Juli 2010: Die Glaubenskongregation veröffentlicht einen in Teilen überarbeiteten neuen Text der "Normen über schwerwiegendere Straftaten". Darin wird die Verjährungsfrist auf 20 Jahre erhöht. Zudem werden die bisherigen Bestimmungen zu Kinderpornografie und sexuellem Missbrauch von Erwachsenen mit geistiger Behinderung präzisiert. Für die Behandlung von Missbrauchsfällen sind beschleunigte Verfahren vorgesehen.

August 2010: Die deutschen Bischöfe verschärfen ihre "Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch".

September 2011: In Deutschland trifft Benedikt XVI. zum insgesamt fünften Mal mit Missbrauchsopfern zusammen.

Juli 2014: Papst Franziskus trifft erstmals in seiner Amtszeit Missbrauchsopfer, darunter auch zwei aus Deutschland. Die Opfer lasteten auf dem Gewissen der ganzen Kirche, sagt er.

Januar 2018: Der Papstbesuch in Chile wird vom dortigen Missbrauchsskandal überschattet. Franziskus stellt sich dort zunächst mit harschen Worten vor einen beschuldigten Bischof, wird jedoch in den kommenden Tagen von den Realitäten eingeholt. In einem Brief an die Bischöfe Chiles räumt er "schwere Fehler" bei der Bewertung und Wahrnehmung der Situation ein und schickt einen Sondergesandten. Später ruft er alle chilenischen Bischöfe zu einem Krisentreffen in den Vatikan und macht ihnen seinerseits schwere Vorwürfe. Fast alle bieten ihren Amtsverzicht an; der Papst nimmt fünf davon an.

Juni 2018: Als bislang höchstrangiger Würdenträger der katholischen Kirche wird in Australien Erzbischof Philip Wilson von Adelaide wegen Vertuschung von Missbrauchsfällen von einem weltlichen Gericht zu einer Haftstrafe verurteilt. Auf öffentlichen Druck tritt er von seinem Amt zurück. Fünf der zwölf Monate darf er in Hausarrest verbringen.

Sommer 2018: Der US-Missbrauchsskandal nimmt neu Fahrt auf. Dem früheren Washingtoner Kardinal Theodore McCarrick (88) wird der Missbrauch von Seminaristen und mindestens zwei Minderjährigen vorgeworfen. Er tritt aus dem Kardinalskollegium zurück – ein seit 90 Jahren einmaliger Vorgang. Im Bundesstaat Pennsylvania beschuldigt eine staatliche Jury rund 300 zumeist verstorbene Priester, in den vergangenen 70 Jahren mindestens 1.000 Kinder und Jugendliche missbraucht zu haben. In den untersuchten Diözesen des Bundesstaates habe eine "Kultur des Vertuschens" durch Kirchenobere geherrscht. Ein weltweiter öffentlicher Aufschrei und Reformbeteuerungen sind die Folge. Auch der derzeitige Washingtoner Kardinal Donald Wuerl (77) gerät ins Visier.

August 2018: In Melbourne beginnt das Hauptverfahren gegen Kurienkardinal George Pell (77) um zwei Fälle sexueller Übergriffe. Medien ist aufgrund der australischen Rechtslage die Berichterstattung verboten.

August 2018: Papst Franziskus schreibt einen vier Seiten langen Brief zum Missbrauchsskandal an die Bischöfe der Weltkirche.


Quelle:
KNA