Frère Alois warnt vor Europamüdigkeit

Taizé in Tübingen

Vor einer Europamüdigkeit warnt der Prior der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé, Frère Alois. Der Kontinent müsse weiter zusammenwachsen, und dafür seien Kontakte zwischen ganz normalen Menschen nötig.

Autor/in:
Michael Jacquemain
 (DR)

Frère Alois, der 58-jährige Prior der ökumenischen Bruderschaft, hat am Montag die Universität der Neckarstadt besucht und anschließend mit rund 1.000 Menschen in der überfüllten Stiftskirche ein Abendgebet gefeiert. Schon eine Stunde vor Beginn des Gottesdienstes stehen die ersten Besucher vor den Türen der Stiftskirche. Drinnen erwartet sie eine Atmosphäre, die an die Versöhnungskirche der Bruderschaft in Burgund erinnert: Kerzenschein erhellt das spätgotische Gotteshaus. An den Säulen Abbildungen der Glasfenster aus der Kirche von Taizé. Hinter dem Altar leuchten meterhohe, nach oben zusammengebundene Tücher in einem warmen Orangebraun.

Und dann? Und dann passiert nicht wirklich viel. Der Gottesdienst beginnt mit dem Lied "Laudate omnes gentes", einem Taizé-Evergreen. Vor dem Altar sitzen Frère Alois und Frère Andreas, beide aus Deutschland, in ihren schlichten weißen Mönchsgewändern, gesungen werden die eingängigen, meditativen Lieder der Bruderschaft, die kurzen Texte aus der Heiligen Schrift werden wie in Taizé üblich in mehreren Sprachen vorgetragen, und in den Fürbitten geht es um Frieden weltweit und um die von der Flutkatastrophe Betroffenen und die Helfer.

Dann, das zentrale Element, fast zehn Minuten Ruhe, Zeit zum Entspannen und zum Gebet. Keine Musik, nichts passiert. 1.000 Menschen, darunter auch viele mittlere und ältere Semester, schweigen minutenlang und wirken vielleicht gerade deshalb miteinander verbunden. Nach einer kurzen Ansprache in einfachsten Worten von Frère Alois kann dann jeder, der mag, nach vorne treten und ein Kreuz berühren.

Jugendliche, hatte Frère Alois am Nachmittag bei einem Vortrag über Spiritualität in der Universität gesagt, sehnten sich oft nach Stille. Für sie einen Ort der Ruhe zu schaffen und ihnen zu helfen, sich dem Transzendenten zu öffnen, sei ein erster Schritt, damit Jugendliche Gott suchten, auch wenn sie diese Situation nicht gleich mit religiösen Begriffen beschrieben.

Vorbildhaft bei der Glaubensvermittlung

Taizé, das ist eine ungeplante Erfolgsgeschichte. Der 1944 vom Schweizer Roger Schutz gegründeten Bruderschaft gehören heute rund 100 Brüder aus mehr als 25 Ländern an. Seit 1974 Zehntausende zu einem "Konzil der Jugend" nach Frankreich kamen, veranstalten die Brüder weltweit regelmäßig Jugendtreffen. Frère Alois ist Nachfolger des 2005 von einer psychisch kranken Frau getöteten Frère Roger. Ziel der Bruderschaft ist neben Ökumene die Solidarität mit den Armen und Rechtlosen weltweit.

Jahr für Jahr kommen 100.000 Jugendliche in das Dorf nahe Cluny, dessen Bruderschaft bis heute Spenden strikt ablehnt. Für Albert Biesinger, den katholischen Tübinger Religionspädagogen, weltweit eines der interessantesten Phänomene für Jugendreligiosität überhaupt. Mit seinem evangelischen Pendant Friedrich Schweitzer befasst er sich seit einiger Zeit wissenschaftlich mit der Bruderschaft. Für beide ist Taizé vorbildhaft bei der Vermittlung des christlichen Glaubens. Biesinger sagt: "Taizé hat was. Dort kommt bei jungen Menschen eine Saite zum Schwingen, die sonst nicht berührt wird." Ebenfalls fast banal wirkt die Erkenntnis, dass "Jugendliche dort was fürs ganze Leben mitbekommen, wenn sie lernen, zehn Minuten zu schweigen".

"Früher war klarer, wovon man sprach."

Unterschiedlicher Ansicht ist die Gemeinschaft, das räumt ihr Prior ein, über die Frage, wie sie mit den sogenannten Sozialen Netzwerken umgehen will. Frère Alois beruft sich auf Einschätzungen von Jugendlichen, der Umgang mit Twitter, Facebook und Co sei verlorene Zeit. Frère Andreas, ein gelernter Industrie- und Werbefotograf, der auch Mathematik und Physik studierte, weiß dagegen von Jungen und Mädchen zu erzählen, die moderne Nachrichtentechniken auch dazu nutzen, von ihrem Glauben zu berichten. Zum Beispiel in zwei informellen Taizé-Facebook-Auftritten, die jeweils mehr als 50.000 Menschen gefallen.

Frère Alois geht davon aus, dass es heute insgesamt schwerer geworden ist, aus Gott zu leben. Viele suchten zwar ernsthaft nach dem Sinn des Lebens, könnten sich aber nicht vorstellen, dass Gott sie liebe und begleite. Hinzu komme, dass zentrale religiöse Begriffe wie Kirche, Glaube und Auferstehung häufig Fremdworte geworden seien. Neben solchem Grundwissen mangele es oft an einer sprachlichen Basis über Religiöses. "Früher war klarer, wovon man sprach."


Quelle:
KNA