Eine etwas andere Zwischenbilanz der Fußball-EM

Gruppenletzter ist die Ethik

Fritz-Walter-Wetter in der Münchner Allianz-Arena: Deutschland quält sich gegen Ungarn zu einem Remis und bleibt vorerst im Turnier. Zeit für einen Einwurf von der Seitenlinie.

Autor/in:
Joachim Heinz
Fußball-Europameisterschaft 2020: Der Spielball "Uniforia" / © Marcin Kadziolka (shutterstock)
Fußball-Europameisterschaft 2020: Der Spielball "Uniforia" / © Marcin Kadziolka ( shutterstock )

Dass der Fußball bunt sei, gehört zum standesgemäßen Sonntagsreden-Repertoire eines jeden Fußballfunktionärs. Bei den Farben des Regenbogens schien zumindest für den europäischen Dachverband Uefa eine Rote Linie überschritten zu sein.

Als die Stadt München die Allianz-Arena während des EM-Spiels zwischen Deutschland und Ungarn am Mittwochabend in einen entsprechenden Lichtmix tauchen wollte, legten die Offiziellen ein Veto ein - wegen der politischen Hintergründe des Ansinnens.

Debatte um ungarisches Gesetz

Das Signal der Toleranz, das von München ausgehen sollte, ließ sich durchaus als Kritik am Länderspielgegner Ungarn interpretieren. Das dortige Parlament hatte zuvor ein Gesetz verabschiedet, das "Werbung" für Homosexualität oder Geschlechtsangleichungen bei Minderjährigen verbietet.

Die Regelung sorgt europaweit für Diskussionen, ebenso wie das Vorgehen der Uefa gegen die Münchner Pläne. Damit habe sich der Verband, so das Urteil vieler deutscher Politiker, ins Abseits manövriert.

Verträge mit der Uefa

Dabei jedoch, meint der österreichische Fußballkenner und Buchautor Klaus Zeyringer, "vergessen die politisch Verantwortlichen, dass sie mit der Uefa einen Vertrag unterschrieben haben, der dem europäischen Verband eine Extraterritorialität zugesteht". In den EM-Spielstätten hat zudem die Uefa für die Dauer des Wettbewerbs das Sagen - und dafür vorab den Segen aus der Politik erhalten.

Dieses gepflegte Doppelpassspiel mit dem Sport werde leider von den Medien viel zu selten ausgeleuchtet, beklagt Zeyringer.

Niemandem auf die Füße treten?

Immerhin: Ex-Fußballer Per Mertesacker versuchte sich im ZDF kurz vor Anpfiff der Partie gegen Ungarn an einer Erklärung. Die Uefa habe verschiedene Interessen zu berücksichtigen; Budapest sei ein wichtiger Austragungsort der EM, so Mertesacker.

Dann gebe es da noch große Sponsoren wie Qatar Airways. Im Land des nächsten WM-Gastgebers Katar gilt das islamische Recht, die Scharia. Homosexuelle Handlungen sind in dem Golfstaat verboten. "Die wollten wahrscheinlich den Leuten nicht auf die Füße treten", fasste Mertesacker zusammen.

Zusammenbruch des Dänen Eriksen

Kritiker formulieren es so: Im Zweifel kommt Geld vor der Moral. Diese Konstellation ließ sich nach Ansicht von Klaus Zeyringer auch beim Zusammenbruch des dänischen Spielers Christian Eriksen beim Vorrundenspiel der Gruppe B gegen Finnland beobachten. Dass den traumatisierten Spielern die Verantwortung für eine Fortsetzung der Begegnung nach einer Unterbrechung von knapp zwei Stunden zugemutet wurde, hält Zeyringer für "äußerst problematisch".

Die Episode zeige aber auch, dass die eng getakteten Spielpläne inzwischen kaum mehr eine andere Wahl in solchen und anderen Fällen ließen, weil man "dem TV-Publikum dauernd Matches bieten und neoliberal alle Räume besetzen will".

Grabenkämpfe im DFB

Unterdessen zerlegte der DFB seine Ethik-Kommission. Die Grabenkämpfe im größten Einzelsportverband der Welt gehen in die Verlängerung; die Kommission ist einstweilen handlungsunfähig. Ex-Mitglied Nikolaus Schneider sieht dringenden Reformbedarf bei den großen Sport- und Fußballverbänden.

Allerdings sei er unsicher, ob der Sport allein die Kraft habe, Fehlentwicklungen zu korrigieren. "Deshalb muss die Öffentlichkeit, auch die Politik, diesen Entwicklungen höhere Aufmerksamkeit widmen", meint der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Hooligans und Corona-Pandemie

Zwischen Viererkette und Doppelsechs sind im Fußball ein paar falsche Fuffziger zuviel unterwegs. Bei den Spielen gegen Ungarn beschäftigten ultrarechte und gewaltbereite Hooligans der "Carpathian Brigade" die jeweiligen Sicherheitskräfte. Manches droht aus dem Ruder zu laufen.

Das gilt auch mit Blick auf die Corona-Lage. In Russland schnellen die Infektionszahlen in die Höhe, und beim Anblick eines proppevollen Stadions in Ungarns Hauptstadt Budapest dürfte dem ein oder anderen quarantänegebeutelten Zuschauer ein kalter Schauer über den Rücken laufen.

Eigentore - in mehrfacher Hinsicht

Irgendwie ist diese EM bislang ein Turnier der Eigentore gewesen - in vielerlei Hinsicht. Gruppenletzte sind Ethik und Moral. "The games must go on" - als nächstes steht übrigens Olympia 2020 in Tokio auf dem Programm.


Quelle:
KNA