Auslandsseelsorger Deselaers zu digitalem Gedenken in Auschwitz

"Der Horror von Auschwitz war kein Film"

Der Auslandsseelsorger der Deutschen Bischofskonferenz, Manfred Deselaers, begleitet viele Gruppen im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. In diesem Jahr findet das Gedenken an die Befreiung des Lagers nur digital statt.

Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz / © Novosti (epd)
Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz / © Novosti ( epd )

KNA: Der Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar erinnert an die Befreiung der überlebenden Häftlinge des NS-Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Roten Armee. 2020 fand in der Gedenkstätte im polnischen Oswiecim zum 75. Jahrestag ein Gedenkakt mit Überlebenden und internationalen Politikern statt. Wegen der Corona-Pandemie wird 2021 nur digital an die Befreiung der Häftlinge in Auschwitz-Birkenau vor 76 Jahren erinnert. Was bedeutet das für den Gedenktag und für das Erinnern?

Manfred Deselaers (Auslandsseelsorger der Deutschen Bischofskonferenz und Begleiter von Besuchgruppen im polnischen Oswiecim): Der konkrete Ort hat immer eine besondere Bedeutung. Der Horror von Auschwitz war kein Film, er war leider und unglaublich Wirklichkeit. Deshalb sind auch Menschen, die schon sehr viel darüber wissen, erschüttert, wenn sie die Gedenkstätte besuchen.

Sich bei einer Gedenkveranstaltung dort zu treffen, gibt dem Erinnern eine Verankerung in der Wirklichkeit, die digital nicht eingeholt werden kann. Und dieses Gespür von Realität vertieft wesentlich das Verantwortungsgefühl: Das ist wirklich geschehen, also ist es möglich, also kann es wieder geschehen, also sind wir heute verantwortlich, dass es nicht wieder geschieht. All das bleibt natürlich wahr, auch wenn in diesem Jahr eine Veranstaltung in der Gedenkstätte nicht organisiert werden kann. Wir sehen ja jeden Tag, wie wichtig dieser Ruf an unsere Verantwortung ist.

KNA: Und was bedeutet das digitale Gedenken für die oft hochbetagten Überlebenden und deren Angehörige, die vielleicht nie wieder eine Möglichkeit haben werden, in die Gedenkstätte zu kommen?

Deselaers: Auch in den letzten Jahren konnten die meisten nicht mehr kommen, denn von den noch Lebenden sind viele schwach und krank. Sie werden weniger den Besuch in Auschwitz selbst vermissen - denn der ist immer belastend - als das Treffen mit Kollegen und Kolleginnen aus jener Zeit und die Gelegenheit, im Gespräch mit Politikern und Journalisten Zeugnis geben zu können. Alle wollen, dass erinnert wird und dass die Welt daraus ihre Verantwortung lernt.

KNA: Warum stehen 2021 die Kinder im Mittelpunkt des Gedenkens?

Deselaers: Jedes Jahr hat die Gedenkveranstaltung einen anderen Schwerpunkt. Die Zeitzeugen, die heute noch sprechen, waren damals sehr jung, oft noch Kinder, einige wurden sogar im Lager geboren. Dadurch ist deren Zeugnis in den Vordergrund gerückt.

KNA: Wie kam es, dass sogar Kinder in dem Lager eingesperrt waren?

Deselaers: Weil bei Vergeltungsaktionen ganze polnische Familien verhaftet wurden. Nach dem Warschauer Aufstand 1944 kamen sehr viele Kinder und Jugendliche nach Auschwitz. Auf deren Initiative hin ist nach dem Krieg die Grundschule in dem Dorf Brzezinka, auf deren Gebiet sich das ehemalige Lager Birkenau befindet, zu einem "Denkmal für die Kinderhäftlinge von Auschwitz" geworden, das erinnern und gleichzeitig der Zukunft von Kindern dienen soll.

Kinder waren im Familienlager der Sinti und Roma, im sogenannten Zigeunerlager, und im Familienlager für die Juden aus Theresienstadt.

KNA: Die Überlebenden hatten eine Kindheit voller Gewalt...

Desealers: Es ist wichtig zu begreifen, dass solche traumatischen Kindheitserfahrungen das ganze folgende Leben tief prägen. Unter Tränen haben mir einmal ehemalige Kinderhäftlinge gesagt, dass sie nicht gewusst hätten, wie sie ihre Kinder erziehen sollten. Sie hätten ja selber nie eine glückliche Kindheit gehabt und nicht gewusst, wie das geht. Viele ihrer Kinder sind dadurch krank geworden.

Die meisten jüdischen Kinder, die nach Auschwitz transportiert wurden, sind nicht einmal ins Lager gekommen, sondern mit ihren Familien direkt in die Gaskammern geschickt worden - über 200.000. In Yad Vashem in Jerusalem gibt es eine eigene Gedenkstätte für diese Kinder.

KNA: Wie viele Mädchen und Jungen waren insgesamt in Auschwitz?

Deselaers: Die Gedenkstätte geht davon aus, dass mindestens 232.000 Kinder nach Auschwitz gebracht wurden: zirka 216.000 Juden, 11.000 Sinti und Roma, 3.000 Polen, tausend Belarussen und hunderte Russen, Ukrainer und andere.

Bei der Befreiung des Lagers am 27. Januar 1945 waren noch 700 Kinder im Lager, darunter viele Zwillinge, die der SS-Arzt Mengele für seine Experimente ausgesucht hatte. Der Umgang mit den Kindern offenbart endgültig die unmenschliche Entartung und Grausamkeit des nationalsozialistischen deutschen Regimes.

KNA: Was bedeutet die Pandemie für die Arbeit des Zentrums für Dialog und Gebet in Auschwitz, an dem Sie Besuchergruppen begleiten?

Deselaers: Die Gedenkstätte ist zurzeit geschlossen, Auslandsreisen sind nicht möglich, und deshalb ist unser Gästehaus leer. Das ist eine sehr schwierige Situation. Wir haben versucht, unseren Internetauftritt mit inhaltlichen Angeboten zum Thema Auschwitz zu verbessern. Aber weil laufende Kosten weiterbestehen, geht es auch um das finanzielle Überleben einer großen Institution.

Ich selbst bin seit Ende Oktober in meinem Heimatbistum Aachen und warte hier sozusagen im Home Office auf das Ende der Pandemie. Ich bin sehr dankbar dafür, dass die Schwestern im Karmel Kloster am Rande von Auschwitz mit ihrem Gebet vor Ort bleiben. Langfristig bleibt das Zentrum für Dialog und Gebet sicher ein wichtiger Besinnungsort.

Das Interview führte Leticia Witte.


Das Eingangstor mit der Aufschrift "Arbeit macht frei" der KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau  / © Nancy Wiechec (KNA)
Das Eingangstor mit der Aufschrift "Arbeit macht frei" der KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau / © Nancy Wiechec ( KNA )
Quelle:
KNA