Wie Amartya Sen die Arbeit bei Misereor beeinflusst

"Ganz große Bewunderung" für Amartya Sen

Den Nobelpreis hat Amartya Sen bereits 1998 bekommen. Jetzt erhielt der indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Sens Arbeit ist auch eine Grundlage für die Projekte des Hilfswerks Misereor.

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird auch dieses Jahr verliehen / © Chinnapong (shutterstock)
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird auch dieses Jahr verliehen / © Chinnapong ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Ein verdienter Preisträger. Warum? 

Anselm Meyer-Antz (MISEREOR-Länderreferent für Indien): Da muss ich, wenn ich darf, ein bisschen weiter ausholen. Seine Kindheit, und sein ganzes Leben, hat immer auf Universitätscampi stattgefunden, schon sein Vater war Professor an der damals noch in der britischen Kronkolonie gelegenen Universität von Dakar, heute in Bangladesch. Und er hätte eigentlich alles dafür gehabt, um ein Leben abgeschieden im Elfenbeinturm der Wissenschaft zu führen und die große mathematische Tradition Südasiens fortzusetzen. Das hat er auch getan. Er ist ein formell sehr gut ausgebildeter Wissenschaftler.

Aber im Alter von elf Jahren passierte da etwas, was in seinem Leben so nicht hineingehörte: Und zwar kam es zu einem massiven Konflikt zu Zeiten der entstehenden Unabhängigkeit Indiens zwischen Hindus und Moslems, und ein übel zusammengestochener islamischer Arbeiter suchte Hilfe am Haus seines Vaters in Dakar. Der Mann verstarb dann auf dem Weg ins Krankenhaus, wo die Familie Sen ihn hingebracht hatte. Aber es war noch ein Gespräch möglich. Der Vater von Amartya Sen fragte den Mann relativ entgeistert: "Warum hast du dich am heutigen Tag eigentlich in diese Gegend begeben? Das musste doch klar sein, dass Du Hindus zum Opfer fallen würde." Und dann sagte dieser Mann, es sei ihm auch klar gewesen, aber seine Familie hätte nichts zu essen gehabt.

Und diese ausweglose Situation, das Leben tagtäglich riskieren zu müssen, um überhaupt den Abend des Tages zu erreichen, um etwas zu Essen kaufen zu können, als Tagelöhner hat den jungen Amartya Sen nicht mehr losgelassen, und er hat seine wissenschaftliche Karriere in die Erforschung der wirtschaftlichen Gestaltung von Gesellschaften gesteckt - in einer Art, dass das Ziel immer ganz, ganz deutlich war: Das Ziel war, dass Menschen nicht in diese Situation geraten dürfen, in der sie sich in große Gefahr hinein begeben, um abends etwas zu essen zu haben. Ein Forscher, der erfolgreich in dieser Richtung geforscht hat und der dann als Ökonom, also als ein eher technischer Wissenschaftler, mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zu Recht ausgezeichnet wird, dem fühlt sich das Bischöfliche Hilfswerk Misereor natürlich besonders verbunden. 

DOMRADIO.DE: Also höre ich auch ein Stück weit Bewunderung und Lob für diesen Mann aus Ihren Worten heraus. Ist das richtig? 

Meyer-Antz: Ganz große Bewunderung: Ich bin selber Ökonom, habe in einer Zeit studiert, als uns die Professoren eher erklären wollten, dass die Welt nicht ungerecht genug sei, um es mal so zuzuspitzen. Es gab in der Bundesrepublik Deutschland mal einen politisch sehr tragfähigen Slogan, der lautete: "Leistung soll sich wieder lohnen." Dahinter steckte die Idee, dass viel zu viel von den Leistungsträgern der Gesellschaft umverteilt worden sei. Ich habe in meinem persönlichen Leben in Brasilien und auch in Südasien immer wieder vor allem in den Flugzeugen Menschen getroffen, die sicherlich das eine oder andere koordiniert haben und die sicherlich geschickt mit Kapital umgegangen sind, und die fest davon überzeugt waren, dass sie da eine größere Leistung als alle anderen Menschen erbracht hätten und dass ihnen deshalb ein Vorsprung vor dem zustände, was den anderen Menschen zustand. Und so war auch über eine lange Zeit die neoliberale Ökonomie ausgerichtet.

Und Amartya Sen war und ist ein sehr profunden schürfender Wissenschaftler. Ich habe es schon angedeutet: Er hat auch seine guten Mathematikkenntnisse immer in den Dienst der Frage gestellt: "Wie kommt dieser marginalisierte islamische Arbeiter nicht wieder in die Situation, sich der Gewalt aussetzen zu müssen?" Etwas abstrakter gesagt: Wie kann eine Gesellschaft wirtschaftlich gerecht gemacht werden? Und dazu hat er einen ganz, ganz großen Beitrag geleistet - übrigens auch einen sehr friedensträchtigen Beitrag, als Entwicklung auf der Welt beschrieben wurde mit Wirtschaftswachstum, ist er irgendwann hingegangen und hat gesagt: "Das kann es doch nicht sein. Und der Index der menschlichen Entwicklung, der heute die Möglichkeit gibt, besser zu beschreiben, wann es mit einem Land und mit einer Gesellschaft aufwärts geht oder wann es mit einer Region aufwärts geht, der geht auf ihn zurück.

Wir könnten bei Misereor unsere Projektevorlagen an unsere Entscheidungsgremien, ohne diesen Index gar nicht mehr gut einleiten. Dazu hat Amartya Sen einen ganz, ganz großen Beitrag geleistet. Und das Witzige dabei ist, dass seine Idee aufgegriffen worden ist von seinem Freund, einem Pakistani, den er an der Universität in England kennengelernt hat. Und diese beiden Wissenschaftler haben in ihrem privaten Freundschaftsverhältnis die eigentlich die ganze Welt bedrohenden Spannungen zwischen den beiden Atommächten Pakistan Indien mal kurz ad acta gelegt. 

DOMRADIO.DE: Das Hilfswerk Misereor ist ja auch in Indien und vielen anderen Regionen dieser Welt aktiv. Wie spielen denn die Forschungsergebnisse von Herrn Sen auch in Ihrer täglichen Arbeit eine Rolle? 

Meyer-Antz: Der Index der menschlichen Entwicklung geht auf eine Forderung Amartya Sens zurück, nicht nur auf die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts oder des Pro-Kopf-Einkommens einer Bevölkerung zu gucken. Er hat damals angeknüpft an die Ratlosigkeit, die in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Menschen ergriffen hatte, wenn sie Brasilien und China verglichen. In Brasilien hatten die Menschen ein sehr hohes Pro-Kopf-Einkommen. Das war aber ungeheuer ungerecht verteilt. Brasilien war zu der Zeit die ungerechteste Wirtschaft auf der Erde. Und hatte auch eine hohe Säuglingssterblichkeit. Für viele Menschen gab es dort keinen Zugang zu Bildung. China hatte zu dem Zeitpunkt überhaupt kein hohes Pro-Kopf-Einkommen, aber eine ganz geringe Analphabetenrate und riesige Erfolge bei der Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit.

Und da hat Amartya Sen gesagt: "Das muss man abbilden. Man muss in der Lage sein, Gesellschaften ganzheitlich zu beurteilen." Sie können sich vorstellen, dass bei einem katholischen Hilfswerk, das sich der Armutsbekämpfung verpflichtet fühlt und der Nachhaltigkeit und der Zukunftsfähigkeit, natürlich die Wahl immer bei einer ganzheitlicheren Beschreibung und damit bei der Arbeit von Amartya Sen liegen wird.

Das Interview führte Moritz Dege.


Amartya Sen / © Anindito Mukherjee (dpa)
Amartya Sen / © Anindito Mukherjee ( dpa )
Quelle:
DR