Kulturwandel bei der Anrede

Stirbt das "Sie" langsam aus?

Was ist geeigneter? Eher das "Du"? Oder vielleicht doch besser das "Sie"? Am Arbeitsplatz wird in vielen Unternehmen mittlerweile geduzt. Die persönlichere Anrede soll auch beim Abbau von starren Hierarchien helfen.

Autor/in:
Michael Ruffert
Symbolbild Geschäftsleute auf dem Weg zur Arbeit / © Artens (shutterstock)
Symbolbild Geschäftsleute auf dem Weg zur Arbeit / © Artens ( shutterstock )

Nicole Susann Ranke berät seit mehr als 30 Jahren Menschen in Krisen, Konflikten und in schwierigen Lebenssituationen. Die Ansprache zwischen ihr und den Ratsuchenden war lange meist eindeutig festgelegt: "Früher habe ich meine Klienten in den Gesprächen gesiezt", erzählt die Life-Coach aus dem westfälischen Waltrop.

Die Frage nach dem "Du" habe sie meist verneint. Inzwischen hat sich das geändert. In ihren Videos, auf der Webseite und in der Beratung werden die Klienten geduzt. "Das liegt durch die neuen Medien einfach im Trend", sagt sie. Sie findet diese Ansprache heute auch "viel persönlicher".

Der Siegeszug des "Du" 

Mit ihrer Einschätzung steht sie schon lange nicht mehr alleine. Der Siegeszug des "Du" scheint kaum noch aufzuhalten: In den sozialen Medien, bei Youtube, Facebook und Twitter ist die direkte Anrede mit "Du" ohnehin längst die Regel, Möbelhäuser werben um Kunden mit der vertrauten Anrede, und auch in manchen Sportgeschäften wird unabhängig vom Alter niemand mehr mit "Sie" angesprochen. Bereits vor vier Jahren bot Hans-Otto Schrader, damals Vorstandsvorsitzender von Otto, allen seinen Angestellten das "Du" an. Sie sollten ihn "Hos", für Hans-Otto, nennen.

Hinter solchen Offerten steckt auch nach Ansicht des Karrierenetzwerks Xing ein "kultureller Wandel, der immer weiter geht", wie ein Sprecher erklärt. Vor rund zwei Monaten entschlossen sich die Betreiber des Netzwerkes, ihre Nutzer künftig ausschließlich mit "Du" anzusprechen.

Zwischen Hierarchie und Nähe

Das Geschäftsführungsmitglied Sabrina Zeplin fuhr als Begründung dafür schwere argumentative Geschütze auf: "Das 'Sie' steht für eine hierarchische Denk- und Arbeitsweise, mit der wir uns bei Xing nicht mehr identifizieren können", schrieb sie in einer Mitteilung. "Das 'Du' schafft Nähe und eine emotionale Verbundenheit, die auch in einem professionellen Umfeld zu einem signifikant besseren Miteinander führt."

Sven Müller, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Gesellschaft für Deutsche Sprache in Wiesbaden, ordnet die Debatte über das "Duzen" und "Siezen" aus sprachwissenschaftlicher Sicht ein. "Mit dem 'Du' drückt man Nähe und Vertrautheit aus, während es sich beim 'Sie' um die höfliche, distanzierte Anrede handelt", erläutert er. Auch bei seinem Institut werde derzeit beobachtet und berichtet, dass das Duzen in der Gesellschaft zunehme. Dabei bleibt aus seiner Sicht aber die sprachliche Grundlage erhalten, dass "Du" und "Sie" Nähe und Distanz ausdrücken; es ändere sich eher das soziale Miteinander am Arbeitsplatz.

Das "Sie" am Arbeitsplatz stirbt langsam aus

Am Arbeitsplatz "stirbt das 'Sie' langsam aus - dieser Trend ist klar erkennbar", sagt Inga Rottländer, Karriere-Expertin bei der Online-Jobvermittlung Stepstone. Bei einer Stepstone-Studie hatten bereits 2016 nur drei Prozent der Befragten angegeben, dass sich an ihrem Arbeitsplatz alle Mitarbeiter siezen. Besonders in kleinen Unternehmen sei der Umgang sehr informell. "Bei Betrieben mit weniger als 50 Mitarbeitern geben die Hälfte an, alle Kollegen - vom Praktikanten bis zum Geschäftsführer - zu duzen", erläutert Rottländer.

Nach ihrer Ansicht ist "der Abschied vom 'Sie' kein einfacher Ausdruck des Zeitgeistes". Er sei vielmehr mit der veränderten Arbeitswelt gekoppelt, in der starre Hierarchien oft effizientes Arbeiten behinderten. Aber sie gibt zu bedenken: Durch die "Duz-Kultur" alleine würden noch keine effektiveren Strukturen erreicht, "wenn am Ende doch jede Entscheidung vom Management getroffen werden muss".

In die gleiche Richtung argumentiert auch Xing: "Wir wissen ziemlich genau, dass das 'Sie' in 76 Prozent aller deutschsprachigen Unternehmen bereits so gut wie ausgestorben ist", schreibt Zeplin. Deutlich mehr als die Hälfte der Xing-Mitglieder hielten das "Du" für richtig und angemessen, nur 15 Prozent würden vorzugsweise beim "Sie" bleiben. Das habe eine Befragung ergeben.

Teilweise Gegenwind fürs Duzen

Allerdings erhielt das Netzwerk nach der Entscheidung neben vielen positiven Rückmeldungen auch Gegenwind. Ein Nutzer bezeichnete "einseitig verordnetes Duzen" als "übergriffig", für andere ist das 'Sie' gegenüber fremden Personen "eine Frage von Anstand und Benimm".
Denn wenn sich das Verhältnis zwischen sich duzenden Kollegen einmal ändere oder gar verschlechtere, stehe die vermeintlich vertrautere Anrede einer Problemlösung im Wege.

Der Duden zeigt sich von der ganzen Diskussion fast unbeeindruckt und rät: "Grundsätzlich ist im Geschäftsleben oder bei neuen Kontakten aber zunächst das 'Sie' die korrekte Ansprache und gerade im beruflichen Umfeld wird dadurch eine notwendige und durchaus nützliche Distanz gewahrt." Es sei durchaus möglich, dass sich Menschen bedrängt oder nicht respektiert fühlten, wenn sie ungefragt geduzt würden.

Nicole Susann Ranke sieht das in ihrer Arbeitswelt inzwischen anders. Nach ihren heutigen Erfahrungen entsteht durch das "Du" einfach ein vertrautes Verhältnis zu ihren Klientinnen und Klienten, das die persönlichen Gespräche und die intensive Beratung erleichtert.


Quelle:
epd