missio-Präsident zum "Internationalen Tag gegen Hexenwahn"

"Die Realität ist nicht niedlich, sondern grausam"

Das Hilfswerk missio Aachen startet eine neue Aktion und ruft den "Internationalen Tag gegen Hexenwahn" aus. Damit will es auf ein weitgehend verdrängtes Problem aufmerksam machen - mit Zehntausenden Opfern in fast 40 Ländern der Erde.

missio startet neue Aktion "Internationaler Tag gegen Hexenwahn" / © Rudi Ernst (shutterstock)
missio startet neue Aktion "Internationaler Tag gegen Hexenwahn" / © Rudi Ernst ( shutterstock )

KNA: Warum brauchen wir einen internationalen Tag gegen den Hexenwahn? Zumal es ja gar keine Hexen gibt...

Pfarrer Dirk Bingener (Präsident von missio Aachen): Genau, es gibt keine Hexen. Aber es gibt Menschen, die als sogenannte Hexen verleumdet werden. Und das sind keine Einzelfälle, sondern passiert in mindestens 36 Ländern der Erde - hauptsächlich in Afrika, Asien und Ozeanien, aber auch in vier Staaten Lateinamerikas. Es betrifft Zehntausende vollkommen unschuldige Opfer. Und gerade, weil das so unvorstellbar ist und zugleich so schrecklich, braucht es viel mehr internationale Aufmerksamkeit. Zum Beispiel durch den Tag gegen den Hexenwahn am 10. August.

KNA: Warum gerade am 10. August?

Bingener: Am 10. August 2012 wurde Christina, eine Frau in Papua-Neuguinea, der Hexerei bezichtigt und gefoltert. Stellvertretend für alle Fälle soll das Schicksal dieser Frau für den Internationalen Tag gegen den Hexenwahn stehen. In einer neuen Menschenrechtsstudie zeigen wir an ihrem Fall exemplarisch, wie solche Denunziationen entstehen, was dann passiert und wozu Menschen fähig sind. Unsere Projektpartnerin Schwester Lorena, eine Schweizer Ordensschwester, hilft den Opfern in Papua-Neuguinea und kämpft vor Ort gegen diesen neuen Hexenwahn.

KNA: Wenn wir hier von Hexen hören, denken wir eher an finsteres Mittelalter oder aber an Harry Potter oder die "Kleine Hexe" und "Bibi Blocksberg", was ja das Thema eher niedlich-romantisch erscheinen lässt...

Bingener: Die Realität ist aber nicht niedlich, sondern grausam. Außerdem müssen wir uns klar machen, dass es heute passiert, im 21. Jahrhundert. Es geht um schlimmste Folter, etwa mit glühenden Eisen. Und dann wird es auch noch gefilmt und ins Netz gestellt. Wir gehen nach bisherigen Erkenntnissen davon aus, dass in den vergangenen 60 Jahren weltweit mehr Menschen als vermeintliche Hexen getötet wurden als in 350 Jahren europäischer Hexenverfolgung im Mittelalter.

KNA: Warum werden Frauen heute der Hexerei bezichtigt? Und sind es nur Frauen?

Bingener: Überwiegend - aber es sind auch Männer und Kinder betroffen. In erster Linie geht es um Gewalt und Machtmissbrauch. Außerdem geht es oft um eine Art Sündenbock: Für Unglücke, einen Todesfall, für eine Pandemie oder eine Naturkatastrophe zum Beispiel, die man sich nicht erklären kann, wird jemand verantwortlich gemacht.

KNA: Gibt es typische Opfer und Täter?

Bingener: Opfer sind oft alleinlebende Frauen, auch weil sie in einer patriarchalen Gesellschaft ohne Familie kaum geschützt sind. Die Täter sind oft junge Männer - und dabei sind häufig Alkohol und Drogen im Spiel. Allerdings darf man das auch nicht pauschalisieren, dazu sind die vielen Fälle individuell zu verschieden.

KNA: Und was kann man dagegen tun?

Bingener: Das Beispiel von Schwester Lorena zeigt, dass es vor Ort in erster Linie Aufklärungskampagnen braucht, einen Austausch mit allen gesellschaftlichen Gruppen und Gespräche mit der Polizei und den Gerichten. Denn entscheidend ist ja auch die Frage, warum Polizei und Justiz so wenig eingreifen und warum etwa eine Dorfgemeinschaft bei solchen schlimmen Verbrechen einfach zuschaut.

Darüber hinaus helfen unsere Projektpartner natürlich erst einmal den Opfern. Sie beschützen sie, nehmen sie zum Beispiel in eigenen Häusern und Zentren auf und sorgen dafür, dass sie medizinische und psychologische Hilfe erhalten, um ihr Trauma zu überwinden. Die Frage ist ja auch, ob die Opfer jemals wieder zurück können in ihr Dorf.

KNA: Wie war das konkret bei Christina?

Bingener: Sie bemerkte in ihrem Dorf eine große Menschenmenge und wollte schauen, was da los war. Plötzlich wurde sie angegriffen und gefesselt, und es hieß, sie sei eine Hexe und schuld daran, dass jemand im Dorf gestorben war. Es gibt Fotos, die den Fall dokumentieren. Darauf sieht man mehrere Hundert Dorfbewohner und drei Polizisten, die als schaulustige Mittäter dabei waren.

Man sieht auch eine Mitschwester von Schwester Lorena, die von Kindern hinzugerufen wurde. Diese Kinder waren die Einzigen, die Hilfe holten. Doch diese Mitschwester wurde von den Folterern vertrieben und mit brennenden Holzknüppeln verprügelt. Das alles ist auf Fotos dokumentiert. Erst nach Tagen konnte sich Christina durch einen Trick befreien und ist dann von den Ordensschwestern aufgenommen worden.

KNA: Wie erklärt sich Schwester Lorena dieses Phänomen?

Bingener: Das sei ein ziemlich neues Phänomen in den vergangenen Jahrzehnten, sagt sie. Die Lebenswelt vieler Menschen sei durch eine schnelle Modernisierung durcheinandergeraten. Das verursache Orientierungs- und Hilflosigkeit. Dazu komme der verstärkte Medienkonsum beispielsweise von Gewaltvideos und Pornografie, die zu einer Verrohung führen.

KNA: Was wollen Sie mit dem neuen Tag gegen den Hexenwahn erreichen?

Bingener: Kurz gesagt: den Opfern eine Stimme geben. Wir veröffentlichen die Studie und eine "Weltkarte der Hexenverfolgung". Wir wollen aufklären und zeigen: Hexenwahn ist kein Problem von gestern und vorgestern.

KNA: Was müsste die Politik tun? Und was jeder Einzelne?

Bingener: Das Thema muss in der Menschenrechtsarbeit stärker beachtet werden, ebenso in der Entwicklungszusammenarbeit. Und jeder und jede von uns sollte darum wissen, sollte die Geschichten der Opfer wahrnehmen. Das neue Frauenschutzzentrum von Schwester Lorena beispielsweise wird mit Spenden aus Deutschland aufgebaut. Und auch viele andere Projekte werden den Opfern des Hexenwahns helfen.

Das Interview führte Gottfried Bohl.

 

Pfarrer Dirk Bingener, missio-Präsident / © Julia Steinbrecht (KNA)
Pfarrer Dirk Bingener, missio-Präsident / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
KNA