Vorsitzender der Tafeln zeichnet düsteres Bild

Wenn auf einmal das Geld nicht mehr reicht

Die Tafeln in Deutschland erleben eine regelrechte Flut an Neuanmeldungen. Plötzlich sprechen die Ausgabestellen einen ganz neuen Personenkreis an. Der Vorsitzende der Tafeln, Jochen Brühl, zeigt im Interview die Dramatik daran auf.

Die Tafeln haben aktuell einen besonders hohen Zuspruch / © Sven Hoppe (dpa)
Die Tafeln haben aktuell einen besonders hohen Zuspruch / © Sven Hoppe ( dpa )

DOMRADIO.DE: Zunächst gab es durch die Einschränkungen, die im Zusammenhang mit dem Corona-Virus standen, im Alltag genügend Probleme, und auch bei der Ausgabe der Tafeln. Einige Ausgabestellen mussten schließen, weil der nötige Abstand zum Beispiel nicht hätte eingehalten werden können. Mittlerweile sind die Tafeln aber mit einer ganz anderen Sorge konfrontiert, oder?

Jochen Brühl (Vorsitzender Tafel Deutschland): Ja, wir beobachten eine Entwicklung, dass sich gerade aufgrund der Pandemie der Personenkreis der Menschen, die Hilfe in Anspruch nehmen, verändert. Es sind viele junge Leute, aber auch Künstlerinnen oder Künstler, Studenten, Selbstständige, auch Menschen, die ihren Nebenjob verloren haben.

Jochen Brühl, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel / © Oliver Mehlis (dpa)
Jochen Brühl, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel / © Oliver Mehlis ( dpa )

Es sind Menschen, die auf einmal merken, dass das Geld nicht reicht. Dass es noch nicht mal reicht, um Essen beziehungsweise Lebensmittel zu kaufen. Die kommen dann zur Tafel, während die, die älter sind, sich oftmals noch nicht trauen, wieder zur Tafel zu kommen, weil sie vielleicht kein Geld für Hygieneartikel haben oder Angst haben, sich anzustecken.

DOMRADIO.DE: Die Hemmschwelle, zur Tafel zu gehen und da Hilfe zu erfragen, ist vermutlich recht groß. Mit welchen Hintergründen kommen die Menschen zu Ihnen?

Brühl: Tatsächlich ist der Erstkontakt eher schambesetzt, die Leute fühlen sich da wirklich schlecht. Aber die über 60.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Helferinnen und Helfer, denen ich einen großen Dank aussprechen möchte, für das, was sie in diesen Zeiten geleistet haben, nehmen einem oft dieses negative Gefühl sehr schnell.

Die Menschen, die zu uns kommen, sind ein Spiegel der Gesellschaft. Das sind Familien mit vielen Kindern, Alleinerziehende, Rentnerinnen und Rentner, es sind Leute, die jetzt in Kurzarbeit sind. Das sind Leute, die einfach am Rand der Gesellschaft stehen, auch Menschen mit Migrationshintergrund. Diese Gruppen machen wir auch öffentlich: Es gibt die Menschen am Rand der Gesellschaft, und die dürfen wir nicht vergessen.

DOMRADIO.DE: In einem offenen Brief an Bundessozialminister Hubertus Heil haben Sie im März schon mehr Hilfen für von Armut betroffene Menschen gefordert. Was ist seitdem passiert?

Brühl: Es gibt viele Sachen, die die Bundesregierung angestoßen hat. Und trotzdem ist es so, dass wir den Eindruck haben, dass es gerade die von Armut betroffenen Menschen sind, die in dieser Krise vergessen werden: Kinder im Homeschooling, die eigentlich ein Tablet brauchten. Bei Rentnerinnen und Rentner ist es sowieso so, dass vieles nicht ankommt von den Hilfen, die da auch zugesagt wurden. Ich glaube, da muss man nachjustieren, man muss da genau hingucken.

Wir müssen im Blick behalten, dass die, die sowieso schon wenig haben und die Lobby nicht haben, nicht an dieser Stelle noch mehr ins Hintertreffen geraten. Das haben wir der Bundesregierung gesagt, die Tafeln machen das öffentlich.

Es muss Expertinnen und Experten geben, die sich mit diesem Thema befassen und dann sagen, dass man sich gerade um die Menschen, die in Rente sind, aber auch junge Menschen, selbstständige Menschen, die in Kurzarbeit sind, die ihren Job jetzt verlieren, kümmern muss. Da muss man am Ende auch nachjustieren, damit diese Leute nicht noch weiter abgehängt werden.

DOMRADIO.DE: Die Hilfen der Bundesregierung reichen noch nicht aus?

Brühl: Nein, die reichen nicht aus oder kommen zu spät an. Natürlich kann man auch nicht jede Branche retten. Aber ich persönlich glaube, es geht hier um Menschen. Wir müssen die Menschen im Blick haben, die sowieso schon zu wenig haben. Und da helfen auch keine guten Worte, sondern Taten.

Da sind wir gerne bereit, uns auch mit an den Tisch zu setzen. Aber da muss was passieren, dass diese Menschen, die von Armut betroffen sind, an dieser Stelle der Pandemie nicht noch weiter abrutschen.

DOMRADIO.DE: Sie machen aktuell auch auf die schwierige Situation für ältere Menschen aufmerksam, die sich vielleicht gerade wegen des Coronavirus nicht aus dem Haus trauen oder um die Ausgabestelle der Tafel lieber aus Sicherheitsgründen einen großen Bogen machen. Wie kann diesen Menschen geholfen werden?

Brühl: Wir versuchen das über Lieferdienste. Wir versuchen das, indem wir auch Pakete für Mensche packen, damit die die Lebensmittel bekommen. Aber gerade für die älteren Menschen ist das gerade noch schlimmer, noch krasser, weil die Tafel ja auch ein Ort der Begegnung ist, wo sie Menschen treffen, wo sie mit den Menschen ins Gespräch kommen.

Das kriegen wir auch immer wieder zurückgemeldet, dass diese Menschen zum einen natürlich besorgt sind. Sie bekommen die Lebensmittel nicht, da versuchen wir das gerade mit den Lieferdiensten zu kompensieren. Aber ein ganz großes Problem ist das Thema Einsamkeit, Isolation. Das macht vielen älteren Menschen zu schaffen.

Es gibt ja auch viele Helferinnen und Helfer, die zu den Risikogruppen gehören. Wir haben in Deutschland noch 120 Tafeln, die geschlossen sind. Auch für die ist das eine ganz schwierige Geschichte, nicht helfen zu können und sich auch nicht mit den anderen Ehrenamtlichen zu treffen. Da muss man noch mal deutlich sagen: Für ältere Menschen, die von Armut betroffen sind, geht es nicht nur um die Lebensmittel, sondern eben auch um den Kontakt zu anderen.

Tafeln in Deutschland

Die bundesweit agierenden Tafeln haben sich in den vergangenen 20 Jahren zu einer der größten sozialen Bewegungen in Deutschland entwickelt. Waren es 2002 noch gut 300, gibt es heute bundesweit etwa 900 Tafeln mit rund 2.100 Tafel-Läden und Ausgabestellen. Bei ihnen engagieren sich circa 60.000 ehrenamtliche Mitarbeiter. Alle zusammen versorgen sie mehr als 1,5 Millionen Menschen mit Lebensmitteln, die sie als Spenden im Handel und bei Herstellern gesammelt haben.

Helfer sortieren  Salat bei der Lebensmittelausgabe in der Kirche Sankt Karl Borromäus in Köln / © Harald Oppitz (KNA)
Helfer sortieren Salat bei der Lebensmittelausgabe in der Kirche Sankt Karl Borromäus in Köln / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
DR