Warum die Corona-Krise unser Verhältnis zum Fernweh neu ordnet

Traumreisen einmal anders

Reisen beginnt meist im Kopf. Eine kleine Betrachtung, wie wir in der Corona-Pandemie unser Kopfkino nutzen können und wie unser Nachdenken unseren künftigen Urlaub beeinflussen könnte.

Autor/in:
Andreas Öhler
 (DR)

"Wenn jemand eine Reise tut, hat er was zu erzählen", heißt es in einem ironischen Gedicht von Matthias Claudius, das den Titel trägt: "Urians Reisen um die Welt". In Wahrheit aber beginnt die Erzählung vom Reisen schon sehr viel früher. Dann nämlich, wenn wir sie planen. Nach jeder Reise stellt sich in der Regel heraus, dass das Schönste daran die Erwartung war, die wir hegten, bevor wir überhaupt aufbrachen.

Reisefieber und Reisekrankheit sind etwas Grundverschiedenes. "Die wahren Abenteuer sind im Kopf", sang einst der Wiener Songpoet Andre Heller. Und in Zeiten der Corona-Pandemie, wo uns das Reisen nicht oder nur eingeschränkt möglich ist, tut es gut, sich daran zu erinnern.

Bücher, Filme, Fotografien und Berichte prägen Vorstellung

Seit frühester Kindheit werden unsere Vorstellungen durch Bücher, Filme, Fotografien und Berichte von Verwandten geprägt, lange bevor wir uns ein realistisches Bild von unserem Reiseziel machen können. Ein Karl May-Fan, der sich seinen Sehnsuchtstraum erfüllt und als Erwachsener in die nordamerikanische Prärie reist, in der Hoffnung, dass sich wenigstens das ein oder andere des Radebeueler Geschichtenerzählers doch bewahrheitet, kann in der Begegnung mit der Wirklichkeit eigentlich nur enttäuscht werden.

Dass Karl May sich damals das, was er über den Wilden Westen verzapfte, alles nur angelesen hatte, tat der Lektürefaszination keinen Abbruch. Wie viel ärmer wäre unser innerer Reisekosmos ohne die Bilderwelten von Pippi Langstrumpf oder Jim Knopf, ohne Tim und Struppi oder Robinson Crusoe! Nach den Kinderbüchern übernehmen dann irgendwann die Songs und Filme das Ruder, die einen als Jugendlicher für die Welt konditionieren. Sie bestimmen unsere Anschauung, die Art wie wir Dinge und Orte wahrnehmen.

Vorstellung und tatsächliche Erfahrung

Nur den wenigsten Menschen gelingt es, sich nach einer Reise noch daran zu erinnern, wie sie sich den Ort erträumt hatten, bevor die reale Erfahrung die Vorstellung überformte. In Zeiten von Corona melden sich vielfach aber diese überlagerten, verschütteten Traumbilder wieder zu Wort. Wer in der DDR lebte und sich vom Westen folglich nur eine Vorstellung jenseits des eigenen Erfahrungshorizontes machen konnte, kann diese Erkenntnis womöglich eher nachvollziehen als Vertreter der Easy-Jet-Generation, die mit ihren Billigflugtrips schneller reisen, als sie sich diese Reise erträumen können.

Vielleicht reisen wir alle - wenn es uns denn einmal wieder vergönnt sein wird, ein Flugzeug zu besteigen - bewusster, als wir es zuvor getan haben. Wann dämmert uns, dass der inflationäre Massentourismus uns von unserem Ursprungsmotiv zu reisen entfremdet? Wo das Reiseversprechen lediglich noch aus Sonne, Strand, Meer und Party besteht, ist für individuelle Reiseerlebnisse kein Platz mehr.

Blick auf das Reisen

Werden wir uns nun eher kritisch fragen, warum uns keine kulturprägenden Reisebilder mehr gelingen, wie es sie noch von Goethe mit seiner italienischen Reise oder von Heinrich Heine gab? Haben wir mit unseren Städtekurztrips in Legionenstärke nicht gerade die Stadt zugepflastert, die wir besichtigen wollten? Verstellen wir uns also durch uns selbst den Blick?

Für Reiseveranstalter mag diese Sichtweise auf das Reisen womöglich zynisch klingen, aber es gibt sie nun mal: die Anmut der leeren Gegend. Über der Stadt und dem Land schwebt jetzt eine Stille - die viel weniger gespenstisch ist, als unser von Hektik sonst so geprägtes Zeitempfinden es erscheinen lässt. Das schafft wieder Raum, sich den Wert des Reisens neu vor Augen zu führen. Und lehrt uns, dass viel Zeit auch ein Gewinn sein kann. Wir denken womöglich mehr nach, wie wir uns in Zukunft behutsamer aufmachen können. Aufmachen ist hier im doppelten Sinne gemeint, als ein sich Öffnen für neue Erfahrungen und für Menschen. Letzteren nähern wir uns dann vielleicht eher wieder auf Augenhöhe, als in ihnen immer nur das Service-Personal zu sehen.

Bei Matthias Claudius ging das Gedicht übrigens schlecht aus. Die Schlusszeilen heißen: "Und fanden's überall wie hier / Fand überall'n Sparren / Die Menschen grade so wie hier / und ebensolche Narren."


Ein Pilger auf dem Jakobsweg. / © Philippe Glorieux (KNA)
Ein Pilger auf dem Jakobsweg. / © Philippe Glorieux ( KNA )

Zeit zum Innehalten / © Jens Büttner (dpa)
Zeit zum Innehalten / © Jens Büttner ( dpa )

Flugzeug nach dem Start / © Photon Catcher (shutterstock)
Flugzeug nach dem Start / © Photon Catcher ( shutterstock )
Quelle:
KNA
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