Nikolaus Schneider: Folgen des Sterbehilfe-Urteils nicht absehbar

Altpräses fordert starke Stimme der Kirchen zum Thema

Altpräses Nikolaus Schneider appelliert nach dem Sterbehilfe-Urteil an die Kirchen, sich mit den Folgen zu beschäftigen. Sie müssten sich darüber klarwerden, ob sie sich am möglichen Aufbau eines Netzes von Beratungsstellen beteiligen, so Schneider. 

Symbolbild Sterbehilfe / © BBT-Gruppe/Harald Oppitz (KNA)
Symbolbild Sterbehilfe / © BBT-Gruppe/Harald Oppitz ( KNA )

epd: Die Karlsruher Richter haben am Mittwoch den Strafrechtsparagrafen 217 gekippt, der die organisierte Hilfe beim Suizid verboten hatte. Wie bewerten Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts?

Nikolaus Schneider (rheinischer Altpräses, früherer Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland): Das Gericht hat sich umfassend und fair mit der zu beurteilenden Materie auseinandergesetzt. Dieses Urteil dispensiert nach meinem Verständnis den Schutz des Lebens als oberste Aufgabe staatlichen Handelns zugunsten der Umsetzung des freien Willens eines Menschen zur Selbsttötung. Die Selbsttötung als Umsetzung des freien Willens eines Menschen wird als "normale" Handlungsoption in jeder Lebenslage verstanden. Diese Grundüberlegungen des Urteils kann ich nur hinnehmen, ich kann ihnen nicht zustimmen.

epd: Welche Konsequenzen hat das Urteil Ihrer Meinung nach?

Schneider: Die Konsequenzen des Urteils für unser gesellschaftliches Zusammenleben sind umfassend noch nicht absehbar. Ich rate aber zur Mäßigung bei den Bewertungen. Denn ich gehe davon aus, dass Menschen im Normalfall leben wollen, so dass nun keine Welle von Selbsttötungen über uns hereinbrechen wird.

Deshalb sollten sich die Kirchen auch an den Überlegungen beteiligen, wie nun mit dem Urteil umgegangen werden kann. Dabei wird insbesondere auf eine der Lebenswürde entsprechende Ausgestaltung der Urteilsfolgen zu achten sein - also kein "Wildwuchs" und keine Entsolidarisierung! Dazu gibt das Bundesverfassungsgericht einige Hinweise.

epd: Welche weiteren Folgen wird die Entscheidung haben?

Schneider: Eine der ersten Konsequenzen des Urteils wird sein, dass "Sterbehilfevereine" ihre Tätigkeiten wieder aufnehmen werden. Auch in der Ärzteschaft wird zu klären sein, wie dem Wunsch von Ärzten, die Menschen einen ärztlich assistierten Suizid ermöglichen wollen, Raum verschafft werden kann.

epd: Was erwarten Sie von den Kirchen?

Schneider: Die Kirchen müssen sich darüber klarwerden, ob sie sich am möglichen Aufbau eines Netzes von Beratungsstellen beteiligen. Sie werden sich insbesondere dafür einsetzen, dass der kostenträchtige Ausbau von Palliativ- und Hospizstrukturen in unserem Land nicht in Stocken gerät. Dabei müssen die Kostenträger daran gehindert werden, mit Verweis auf einen anzunehmenden Willen zur Selbsttötung eines gewissen Teils der Bevölkerung die weitere Entwicklung dieser Hilfestruktur zu behindern.

epd: Ihre Ehefrau Anne vertritt nach ihrer Brustkrebserkrankung die Meinung, dass assistierter Suizid erlaubt sein sollte. Gibt es zwischen Ihnen weiterhin einen Konflikt bei dem Thema? Wie bewertet Ihre Frau das Urteil?

Schneider: Ich bin nach wie vor der Meinung, dass Menschen allein in besonderen Notsituationen den Zeitpunkt ihres Todes selbst bestimmen sollten. Und der Konflikt mit meiner Frau im Blick auf die gesetzliche Regelung der Sterbehilfe besteht fort. Auch im Verständnis von Gottes konkretem Wort und Willen in der theologischen Beurteilung des Suizids haben wir weiterhin unterschiedliche Glaubensvorstellungen. Wir gehen weiter respektvoll mit diesem Dissens zwischen uns um. Meine Frau begrüßt das Urteil uneingeschränkt, weil es ihre Kritik an dem 2015 verabschiedeten Paragrafen 217 aufnimmt und bestätigt.

​Jana Hofmann


Nikolaus Schneider / © Norbert Neetz (epd)
Nikolaus Schneider / © Norbert Neetz ( epd )
Quelle:
epd
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