Kindern ein liebevolles Zuhause auf Zeit bieten

Familiäre Bereitschaftsbetreuung

Nicht alle Kinder wachsen behütet auf. Manchmal sind Eltern mit der Fürsorge und Erziehung überfordert und es kommt zu akuten Gefährdungssituationen. Dann werden Familien gesucht, die hier vorübergehend einspringen. Margit Brück erklärt, wie.

Kindern ein liebevolles Zuhause auf Zeit bieten / © Natalia Kabliuk (shutterstock)
Kindern ein liebevolles Zuhause auf Zeit bieten / © Natalia Kabliuk ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Frau Brück, die Weihnachtszeit kann angesichts der besonderen Emotionen, die mit ihr verknüpft werden, schon für "normale" Familien zu einer Belastungsprobe werden. Um wie viel mehr für Familien, die ohnehin nicht als stabil gelten und im Alltag kaum auf entlastende Ressourcen zurückgreifen können. Wirkt sich diesbezüglich die Jahreszeit auf Ihre Arbeit aus?

Margit Brück (Sachgebietsleiterin "Familiäre Hilfen" der Stadt Köln): Natürlich sind das gerade besonders sensible Tage, und bei unserer Arbeit der familiären Bereitschaftsbetreuung geht es nun mal um ein schwieriges Thema: nämlich um die Inobhutnahme von Kindern durch das Jugendamt, für die in ihren Herkunftsfamilien nicht ausreichend gesorgt wird. Das heißt, manchmal müssen Kinder aus akuten Krisensituationen kurzfristig für unbestimmte Zeit herausgenommen werden. Das ist zu Weihnachten ganz besonders schwer, aber für uns steht im Zentrum das Wohl des Kindes. Ist das in Gefahr, müssen wir handeln und Verantwortung übernehmen – an jedem Tag des Jahres.

DOMRADIO.DE: Können Sie Situationen schildern, die Sie als Gefährdung definieren?

Brück: Die Gründe dafür, ein Kind in die familiäre Bereitschaftsbetreuung aufzunehmen, die eine besondere Form der Krisenunterbringung ist, sind vielfältig: häusliche Gewalt, bei der die Kinder Zeugen werden, Drogensucht, körperliche Misshandlung, eine psychische Erkrankung der Eltern oder schlichtweg eine Überforderung, weil Mutter und Vater selbst fast noch Kinder sind. Natürlich geschieht eine solche Inobhutnahme oft nicht freiwillig – es sei denn, eine Mutter ruft selbst beim Jugendamt an, kann ihre Überforderung artikulieren und bittet ausdrücklich um Hilfe, weil sie den schreienden Säugling nicht mehr erträgt. Wird das Kind gegen den Willen der Eltern in Obhut genommen, sprechen wir von einem "Zwangskontext".

Denn in der Regel reagieren die Eltern mit großem Misstrauen, Wut und auch Angst, wenn Mitarbeiter des Jugendamts vor der Tür stehen, und empfinden die eingeleitete Maßnahme als ungerecht. Aber natürlich macht sich niemand die Entscheidung leicht, ein Kind aus seinem Familiengefüge herauszunehmen. Trotzdem ist dann gerade für jüngere Kinder, die Schutz, Geborgenheit und Stabilität in ihren Beziehungen benötigen, eine vorübergehende Betreuung in einer Bereitschaftspflegefamilie die bessere Lösung. Das geschieht oft von jetzt auf gleich, so dass solche Familien jederzeit mit einem "Überraschungsgast" – in unserem Fall im Alter zwischen null und vier Jahren – rechnen müssen und kaum Zeit haben, sich darauf vorzubereiten. Sie übernehmen dann die Betreuung so lange, bis die weitere Perspektive für das Kind geklärt ist. Das kann einige Wochen, aber auch Monate und in Ausnahmefällen sogar bis zu anderthalb Jahren dauern, kommt es zu einem Verfahren beim Familiengericht.

DOMRADIO.DE: Wenn man von gravierenden Fällen in der Zeitung liest, ist oft schon etwas Schreckliches passiert. Aber das ist vermutlich nur die Spitze des Eisbergs…

Brück: Manchmal begleitet das Jugendamt Familien über Jahre und hat im Blick, dass es Eltern gibt, die bei der Erziehung Hilfen brauchen. Aber meistens werden wir in solche Situationen auch völlig überraschend einbezogen. Man muss einfach wissen, dass es für Kinder extrem belastende Lebensumstände gibt, die nicht immer offensichtlich sind. Immer wieder haben wir beispielsweise auch Babys mit einem Schütteltrauma, die dann erst einmal eine intensive medizinische Betreuung benötigen.

Aber auch andere Kinder kommen oft hochbelastet aus akuten Krisensituationen, so dass wir zur Bewältigung besonderer Herausforderungen Bereitschaftseltern auch zusätzliche Hilfen zur Seite stellen. Manche Kinder sind verhaltensauffällig. Das äußert sich dann in Formen von Distanzlosigkeit, dass keine Sättigungsgrenze erreicht wird oder auch dass Entwicklungsverzögerungen bestehen – vor allem im sprachlichen Bereich. Manche Eltern sprechen gar nicht mit ihrem Kind und fragen sich dann, warum das Kind nicht sprechen lernt. Hier wiederholt sich manchmal der eigene Lebenslauf.

DOMRADIO.DE: Die Unterbringung in einer Bereitschaftsfamilie ist bewusst zeitlich begrenzt und dient der Klärung, ob das Kind in die Herkunftsfamilie zurückkehren kann oder ob es dauerhaft außerhalb seiner Familie leben wird. Das ist für alle Beteiligten doch auch eine große emotionale Bürde, zumal es erst einmal viele Ungewissheiten gibt…

Brück: Grundsätzlich sollen Kinder in einer Bereitschaftsbetreuungsfamilie nicht länger als sechs Monate leben – gerade weil die Bindung für beide Seiten nicht zu stark werden sollte, da es ja nur ein Zuhause auf Zeit ist. Allerdings mit einem verlässlichen und entwicklungsfördernden Beziehungsangebot. Kinder haben ja noch kein Zeitgefühl, sondern klammern sich schnell an eine Bezugsperson. Ihnen zu erklären, Du bist jetzt hier für das nächste halbe Jahr, macht also keinen Sinn. Trotzdem muss das bei einer Bereitschaftsfamilie immer im Hinterkopf sein. Unser Ziel ist letztlich ja, dass die Kinder wieder zu ihren leiblichen Eltern, denen zwischenzeitlich stationäre oder ambulante Hilfen angeboten wurden, zurückkehren können.

Bei etwa der Hälfte aller Kinder gelingt das auch. Wie gesagt, familiäre Bereitschaftsbetreuung ist eine Form der Krisenintervention, die nicht auf Dauer angelegt ist. Die anderen 50 Prozent der Fälle gehen zum Familiengericht, wo es zu einem Verfahren mit Gutachten und Anhörungen kommt und am Ende dann eventuell auch zu der Entscheidung, dauerhaft eine Pflegefamilie für ein Kind zu suchen.

DOMRADIO.DE: Welche Voraussetzungen müssen Bereitschaftspflegeeltern denn mitbringen?

Brück: Soziales Engagement und Erfahrung im Umgang mit Kindern, Flexibilität und Belastbarkeit, Toleranz und Offenheit für andere Lebenswelten und Lebensvorstellungen sowie die Bereitschaft, Besuchskontakte zur Herkunftsfamilie in den Räumen unseres Fachdienstes, der "Kinder- und Jugendpädagogischen Einrichtung der Stadt Köln" – kurz kidS – anzubieten. Und ganz wichtig ist natürlich Einfühlungsvermögen, um auf die besondere Situation des jeweiligen Kindes und seine individuellen Belastungen eingehen zu können. Menschen, die sich bewerben, sollten sich außerdem von dem Thema als solchem berühren lassen und – ganz wesentlich – den eigenen Kinderwunsch bereits abgeschlossen haben.

DOMRADIO.DE: Gibt es denn dem Bedarf entsprechend genug Menschen, die bereit zu einer solchen Aufgabe sind?

Brück: Zur Zeit haben wir 75 Familien unter Vertrag, aber der Bedarf ist weitaus größer. Daher suchen wir immer wieder engagierte Familien, Lebensgemeinschaften oder Einzelpersonen, die Babys oder Kleinkindern bis zu vier Jahren vorübergehend ein liebevolles Zuhause geben wollen. Zu ihrer Aufgabe gehört dann auch, die körperliche, seelische und geistige Verfassung des Kindes genau zu beobachten und so den Hilfebedarf für das Kind richtig einzuschätzen.

Es kann dabei durchaus von Vorteil sein, wenn eine Bereitschaftspflegefamilie selbst auch schon mal eine Krise durchlebt hat. Zum Glück haben wir viele, mittlerweile auch sehr erfahrene Bereitschaftspflegeeltern dabei, die manchmal zehn und sogar 20 Jahre mit uns zusammenarbeiten. Das sind wichtige Partner für uns, denn die Störungsgrade der Kinder sind mitunter gravierend. Und da ist langjährige Erfahrung in jedem Fall hilfreich.

DOMRADIO.DE: Wenn Sie sagen, dass Sie immer wieder Bewerber für einen solchen Dienst suchen, heißt das ja im Umkehrschluss, dass es im Verhältnis doch recht viele Kinder gibt, die nicht behütet und geliebt aufwachsen…

Brück: Gerade in der Altersgruppe zwischen null und vier sind die Zahlen in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Im vergangenen Jahr haben wir 101 Kinder aufgenommen. Das bedeutet 101 Einzelschicksale, bei denen es genau hinzusehen gilt. Denn immer häufiger zeigen sich bei Eltern Persönlichkeitsstörungen oder aber junge alleinerziehende Mütter fühlen sich mutterseelenallein bei ihrer Erziehungsaufgabe, weil sie keine eigene funktionierende Familie im Rücken haben und selbst schon aus prekären Verhältnissen stammen. Das ist dann wie ein Teufelskreis.

Außerdem ist Armut ein großes Thema, was eine angemessene Fürsorge zusätzlich erschwert. Es steckt ja oft keine böse Absicht dahinter, dem eigenen Kind nicht gerecht werden zu können. Es kann durchaus sein, dass sich Eltern sehr bemühen, das aber trotzdem nicht reicht. Hinzu kommt, dass sich grundsätzlich auch in unserer Gesellschaft Kindschaft und Elternschaft sehr verändert haben.

DOMRADIO.DE: Wie sieht denn die rechtliche Situation von Bereitschaftseltern aus?

Brück: Im Normalfall behalten die leiblichen Eltern die volle elterliche Sorge und in jedem Fall ein Umgangsrecht. Auch wenn das Jugendamt Kinder in Obhut nimmt, ist es meist so, dass die Eltern dieser Maßnahme dann zustimmen. So können auch leichter Vereinbarungen – zum Beispiel zu Besuchskontakten, die ohnehin einmal wöchentlich in unseren Räumen stattfinden, oder zu medizinisch-therapeutischen Entscheidungen – getroffen werden und gemeinsam Perspektiven erarbeitet werden.

Bei Nicht-Zustimmung entscheidet der Familienrichter. Natürlich muss bei Kindern mit sehr speziellen Bedürfnissen ganz genau geschaut werden, wie hier das Beste für das Kindeswohl erreicht werden kann.

DOMRADIO.DE: Sie erwähnten es schon: Auch die Betreuungseltern können auf ein Hilfesystem beim Fachdienst zurückgreifen…

Brück: Da natürlich auch in der Aufnahmefamilie neue Dynamiken – beispielsweise unter Geschwistern – entstehen und ein zusätzliches Kind für Veränderungen bei der gewohnten Konstellation sorgt, gibt es einen Beratungsdienst, der regelmäßig Besuche zu Hause macht und bei allen möglichen Fragen Hilfestellung gibt: Das können Fragen zum Eltern-Kind-Verhältnis sein, zur Partnerschaft, zu Werten und Normen in der Familie, zu Reaktionsmustern der Familie, die Erziehung betreffend oder aber Alltagsprobleme. Auch Fortbildungsmaßnahmen mit Fachreferenten, Erste-Hilfe-Kurse oder Tipps bei Schrei-Babys gehören zum Angebot.

DOMRADIO.DE: In der Summe hört sich das alles nach einer nicht einfachen, aber zutiefst sinnstiftenden Aufgabe an…

Brück: Man braucht zweifelsohne viel Idealismus, aber grundsätzlich sind Familien, die ein fremdes Kind aufnehmen, Überzeugungstäter. Sie öffnen ihr Herz, ihr privates Leben und ihr Haus für ein Kind. Nach einer Eingewöhnungsphase, gibt es eine Stabilisierungsphase und dann auch wieder eine Ablösephase. Das ist sicher nicht immer leicht. Aber wenn man sieht, in welchem Zustand ein Kind manchmal ankommt, nach ein paar Wochen dann aber bei entsprechender Fürsorge regelrecht aufblüht, geht einem schon das Herz auf. Manchmal erkennt man so ein Kind nicht wieder. Natürlich ist der Abschied für alle am Ende immer bewegend. Schließlich ist eine Bindung entstanden, und wenn sich diese löst, kann das auch weh tun. Dann ist auch Weinen und Trauern erlaubt.

Aber die Familien finden ihre Rituale, damit umzugehen, zum Beispiel, indem man unter Umständen auch Jahre später noch zu Kindergeburtstagen geht, wenn der weitere Kontakt zu einer Dauerpflegefamilie gelingt oder sich der zu den leiblichen Eltern positiv entwickelt. Oft begleitet Bereitschaftseltern das Gefühl: Ich habe dieses Kind auf einen guten Weg gebracht, ihm viel Zuwendung mitgegeben. Und darauf dürfen sie dann auch zu Recht stolz sein. Denn sie werden ja Teil der Geschichte dieses Kindes. Und damit es später auch keine Lücke in seiner Biografie hat, gestalten Bereitschaftseltern oft liebevoll ein Abschiedsalbum mit Fotos und Erinnerungen an diese gemeinsame Zeit.

DOMRADIO.DE: Sie machen diese Arbeit jetzt seit mehr als 20 Jahren. Bekommen Sie manchmal mit, wie ein solcher Lebensweg weitergeht?

Brück: Die meisten Kinder, die nach der familiären Bereitschaftsbetreuung in eine Dauerpflegefamilie wechseln, kriegen wir groß – wenn auch mit Knubbeln, wie ich immer gerne sage. Tatsächlich: Viele dieser Kinder, die zunächst keinen guten Start ins Leben hatten, bekommen später die Kurve – trotz einer belasteten Kindheit. Manche brauchen etwas länger, um eine Entwicklung aufzuholen. Sie haben dann vielleicht auch nicht so tiefe Wurzeln wie andere und auch ihr Selbstwertgefühl ist sicher schwächer ausgeprägt. Schließlich sind sie mit einer beschädigten Liebe aufgewachsen. Aber sie machen ihren Weg.

DOMRADIO.DE: Und wie ist das für die "Eltern auf Zeit", die immer wieder neu alles geben, um am Ende dennoch Abschied zu nehmen? Ist das für sie nicht eine emotionale Achterbahn?

Brück: Das sind hochengagierte und in sich gefestigte Menschen, die für diese Kinder wirklich großartige Arbeit leisten und viel einsetzen. Das zu sehen ist mir immer wieder eine große Freude. Als Fachdienst sind wir dankbar, dass Menschen eine solche Aufgabe mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit übernehmen. Und trotzdem fordert das natürlich seinen Preis.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti (DR)


Margit Brück, Sachgebietsleiterin "Familiäre Hilfen" der Stadt Köln / © Beatrice Tomasetti (DR)
Margit Brück, Sachgebietsleiterin "Familiäre Hilfen" der Stadt Köln / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR
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