Moderator Michael Steinbrecher über die Würde des Lebens

"Wir hören viel zu selten zu"

"Wir müssen etwas dafür tun, dass die Würde des Menschen unantastbar ist." Dieser Überzeugung ist der Journalist Michael Steinbrecher. In seinem Buch erzählt er von Menschen, die tagtäglich um ihre Existenz und ihre Würde kämpfen müssen.

Michael Steinbrecher / © Tom Weller (dpa)
Michael Steinbrecher / © Tom Weller ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie erzählen in Ihrem Buch "Der Kampf um die Würde: Was wir vom wahren Leben lernen können" Geschichten von Menschen aus dem wahren Leben. Haben Sie die in Ihrer SWR-Talkshow "Nachtcafé" getroffen?

Michael Steinbrecher (Journalist und Moderator): Die meisten. Ich habe darüber hinaus noch andere kennengelernt und habe auch mit Experten gesprochen. Aber das Wichtige ist, den Themen nachzugehen, die diese Menschen aufwerfen. In unserem Grundgesetz steht: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Dieser Satz ist erst einmal falsch. Das ist meine Überzeugung, denn die Würde ist antastbar. Der Satz wird erst wahr, wenn wir was dafür tun. Ich glaube, wenn wir durch ein Leben gehen, dann werden wir immer wieder sehen, dass Menschen um ihre Würde kämpfen müssen.

DOMRADIO.DE: In Ihrem Buch erzählen Sie sehr anschaulich von einer Frau. Sie heißt Vera Scheefeld, ist 75 Jahre alt und muss immer noch als Taxifahrerin arbeiten, um einigermaßen würdevoll zu leben.

Steinbrecher: Sie hat ihr Leben lang gearbeitet, das muss man vorab sagen. Sie hat sich irgendwann von ihrem Mann getrennt, weil es einfach nicht mehr gepasst hat. Sie war dann lange selbstständig und möchte ihren Kindern jetzt nicht auf der Tasche liegen. Und so fährt sie Tag für Tag Taxi. Das war alles andere als ihr Traumjob. Und ihr Leben wird durch Ängste begleitet: Was ist, wenn meine Waschmaschine kaputtgeht? Was ist, wenn irgendwas im Haus mal nicht funktioniert?

Und sie freut sich eigentlich jeden Tag, an dem sie Geld verdient, weil sie sagt: Das ist wieder ein Tag, an dem ich verdient habe und ein Stückchen länger leben kann. Sie ist eine Frau, die voller Kraft ist und sich nicht beschwert. Aber auf der zweiten Ebene sieht man auch, wie sehr sie kämpfen muss, für ihr Leben und für ihre Zukunft.

DOMRADIO.DE: Und das Unwürdige ist ja vor allem, dass sie sagen muss: Nur, wenn ich arbeite, kann ich es mir überhaupt leisten, noch weiter zu leben.

Steinbrecher: Ja, das ist sicherlich nicht würdig. Denn viele Menschen im Alter wollen weiter teilhaben am Leben. Auch das ist ja etwas, was zur Würde dazugehört; Kontakt zu haben mit anderen Menschen. Ich habe auch viele andere ältere Menschen getroffen, die Ähnliches erzählen. Eine Frau hat ihren letzten Ring verkauft, um mit ihren Freundinnen in Urlaub fahren zu können. Und dann war sie in diesem Urlaub. Aber sie konnte sich kein Essen leisten, sie konnte mit den Freundinnen nicht mitgehen. Daran sind dann auch diese Freundschaften zerbrochen.

Wir müssen uns fragen: Was wollen wir mit Menschen im Alter? Welche Bedeutung hat das Alter für uns? Und was tun wir für diese Menschen, damit sie teilhaben können? Zu wenig, meine ich.

DOMRADIO.DE: Kommen wir nochmal zurück auf Vera Scheefeld. Wird an deren Beispiel auch deutlich, dass es mit der Chancengleichheit in Deutschland nicht so gut bestellt ist?

Steinbrecher: Auf jeden Fall. Ich gehe ja in diesem Buch durch ein Leben. Das sieht man gerade auch an den jungen Menschen, die ich treffe und die in dem Buch vorgestellt werden. Da gibt es zum Beispiel Tiago Möhring, der in einer Familie lebt, die sich nicht viel leisten kann. Das fällt natürlich auch in der Schule auf. Und wenn er dann gefragt wird: "Kommst du heute mit? Wir gehen heute Abend weg." Dann sagt er: "Ich habe keine Zeit." Aber eigentlich sagt er: "Ich habe kein Geld." 

Er wird - wenn man so will - ausgegrenzt. Er hat Angst vor Entdeckung und versucht alles zu tun, damit er nicht auffällt. Man spürt einfach, dass in Deutschland - und das zeigen ja auch die Zahlen - Chancengleichheit wirklich nicht mehr als ein Wort ist.

DOMRADIO.DE: Es gibt viele Beispiele in Ihrem Buch, die damit zu tun haben, dass die Menschen nicht genügend Geld haben, um würdevoll zu leben. Sie ordnen die Themen in dem Buch auch in ihre gesellschaftliche Relevanz ein. Wie sind Sie beim Schreiben vorgegangen?

Steinbrecher: Ich habe mich auch auf Zahlen bezogen, und die sprechen teilweise für sich. Wenn man sich zum Beispiel die Eigentumsverhältnisse in Deutschland anschaut - dazu gibt es aktuelle Zahlen von der Deutschen Bundesbank - dann gehören der reicheren Hälfte unserer Gesellschaft 97 Prozent des Eigentums, der ärmeren Hälfte nur drei Prozent.

Auf der einen Seite muss ich sagen: Ja, diese Zahlen sind wichtig, um eine Gesellschaft näher zu verstehen. Aber ich finde es auch wichtig, dass denjenigen, die diese Themen betreffen, eine Stimme gegeben wird. Das soll in diesem Buch passieren. Denn ich finde, wir hören ihnen viel zu selten zu. Aber das sollten wir tun, denn wir lernen vom wahren Leben. Wir müssen auch die Geschichten hinter den Zahlen sehen. 

DOMRADIO.DE: Sie stellen den Einzelnen in diesen Geschichten immer kurze Zitate voran. Beispielsweise zitieren sie den Sozialarbeitswissenschaftler Professor Günter Rausch mit den höchst aktuellen Worten: "Man kann nicht nicht wohnen. Jeder Mensch muss wohnen. Es geht nicht anders." Es haben aber nicht alle Menschen bezahlbaren Wohnraum und müssen teilweise unwürdig hausen. Haben Sie eine Lösung?

Steinbrecher: Nein, ich bin kein Wohnungsbau-Experte. Ich schreibe auch über Pflege, ohne Krankenhausorganisations-Experte zu sein. Mir geht es um die Würde. Wir fragen uns in dieser Gesellschaft immer wieder: Was ist wichtig? Dann kommt man auf solche Dinge wie eine stabile Wirtschaft oder Toleranz. Aber wir reden zu selten über die Würde. Gerade beim Wohnen geht es immer wieder darum, wenn Familien mit Kindern versuchen, eine Wohnung zu finden, einfach keine bekommen und immer wieder an Grenzen stoßen. Und wir leben auch vom Vergleich. Wenn wir merken, wir können nicht mithalten, dann ist auch unsere Würde in Gefahr.

DOMRADIO.DE: Nicht nur das Wohnen kommt in ihrem Buch vor, sondern auch die Pflege im Alter oder Benachteiligungen finanzieller Art - etwa von Kindern und Senioren. Sie sagen, Sie möchten damit auch gerne Ideen und Projekte aufzeigen, die Hoffnung machen.

Steinbrecher: Auf jeden Fall. Nehmen wir das Thema Alter und nehmen wir die Art, wie wir anders mit Alter und Pflege umgehen können. Ich beschreibe auf der einen Seite die wirklich würdelose Situation in Pflegeheimen. Aber es gibt auch andere Projekte. Es gibt Projekte, die setzen darauf, ältere Menschen so lange wie möglich zu beteiligen. Da gibt es Pflegeheim- und Altenheim-Konzepte, wo die Bewohner und Bewohnerinnen mitkochen, wo es einen Gemüsegarten gibt, wo sie nach wie vor aktiviert werden. Denn alle Untersuchungen zeigen: Solange wir dabei sind, solange wir uns unterhalten, solange wir im Austausch sind, bleiben auch unsere Körperfunktionen da.

Ich finde es gut, dass sich zeigt, dass auch solche Konzepte sich tragen und dass wir einfach einen Schalter im Kopf umlegen müssen und andere Wege denken müssen. Denn die bisherigen führen in unwürdige Situationen - immer wieder. Das zeigt sich! Erst recht, wenn unsere Gesellschaft immer älter wird.

DOMRADIO.DE: Was hat Sie angetrieben, so ein Buch zu schreiben, die Geschichten zu sammeln und dem Thema wissenschaftlich nachzugehen?

Steinbrecher: Ich glaube, das hat auch mit unser aller Leben zu tun. Also, meins hat ganz viel mit dem Thema Würde zu tun: Mein Großvater war Bergmann, der hatte nicht viel Geld. Meine Mutter war eine von drei Töchtern und sie war die einzige, die aufs Gymnasium gegangen ist. Irgendwann hatte sie es aber leid, dass ihre anderen beiden Geschwister darunter zu leiden hatten, weil die Familie eigentlich nicht genug Geld hatte. Deshalb hat sie, ohne mit meinen Großeltern zu sprechen, mit der Schule aufgehört und eine Lehre in einem Lebensmittelladen angefangen. Die war ganz schrecklich. Aber das Schrecklichste war - hat sie immer wieder gesagt - draußen an der Schaufensterscheibe ihre ehemaligen Mitschülerinnen vorbeiziehen zu sehen und mit ihnen auch ihre Bildungsträume.

Ich glaube, das ist in der DNA meiner Familie. Meine Eltern sind keine Akademiker und ich ärgere mich heute noch über Menschen, die auf Andere ohne formale Schulbildung herabschauen oder denken, sie seien was Besseres. Da fühle ich mich und stellvertretend auch meine Eltern angesprochen, und das ist nicht in Ordnung.

DOMRADIO.DE: Das heißt, Ihre Mutter hat ein bisschen mit ihrer eigenen Würde bezahlt dafür, dass es der gesamten Familie besser ging.

Steinbrecher: Ja - leider lebt sie nicht mehr. Ich hab vor kurzem noch ihre Schulhefte gesehen. Wer weiß, welchen beruflichen Weg sie eingeschlagen hätte. Aber es ging nicht. Sie wollte nicht, weil ihre Familie darunter zu leiden hatte. Das ist jetzt Jahrzehnte her. Auch damals gab es in dem Sinne keine Chancengleichheit. Und heute ganz bestimmt erst recht nicht.

DOMRADIO.DE: Den Anteil an den Einnahmen aus dem Verkauf Ihres Buches spenden Sie der Kinderhilfsaktion Herzenssache. Es gibt ja viele Organisationen in Deutschland, die den ärmsten Menschen helfen. Warum haben Sie genau diese ausgesucht?

Steinbrecher: Weil ich sie kenne, weil ich ihre Projekte kenne. Die Organisation arbeitet auch mit dem SWR und unserer Redaktion zusammen, und sie setzt sich für Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen ein. Ich finde, das passt.

DOMRADIO.DE: Inwieweit ist denn die Politik in der Verantwortung?

Steinbrecher: Total. Natürlich sind wir auch in der Verantwortung. Aber die Politik sollte hinschauen, sollte auch denen zuhören, die keine Lobby haben. Denn, wenn man ehrlich ist: Die Menschen in Pflegeheimen, die Schwachen in unserer Gesellschaft, das sind nicht diejenigen, die sich organisieren, die ihre Stimme erheben. Aber eine Gesellschaft ist nur so integer, wie es ihr gelingt, auch die Schwachen in diesen Grenzsituationen ernst zu nehmen und nicht zu sagen: Ach ja, es sieht doch gut aus, weil es den meisten in einer Gesellschaft gut geht. Davon hängt die innere Glaubwürdigkeit ab.

Die Politik hat schon die Aufgabe, auch auf diese Menschen zu gucken. Das sind nicht die einigen wenigen am Rande der Gesellschaft, sondern das sind viel mehr. Wir alle können in solche Situationen geraten. 

Das Interview führte Uta Vorbrodt.


Quelle:
DR