Bundesvorsitzender der Tafeln über Hilfe, Kritik

"Tafeln zeigen uns tagaus tagein, wie hoch unsere Verschwendung ist"

und sein neues Buch
Tafeln helfen, Armut zu verschlimmern, heißt es von Kritkern. Der Bundesvorsitzende der Tafeln, Jochen Brühl, fordert, Ursache und Folge nicht zu vertauschen.

Tafeln unterstützen Bedürftige / © Andreas Arnold (dpa)
Tafeln unterstützen Bedürftige / © Andreas Arnold ( dpa )

In seinem neuen Buch zeigt er die Arbeit der Tafel aus verschiedenen Perspektiven.

DOMRADIO.DE: Tafeln haben eine viel größere Aufgabe, als Menschen "nur" mit Lebensmittel zu unterstützen. Was leisten die Tafeln noch?

Jochen Brühl (Bundesvorsitzender der Tafeln, Autor des Buches "Volle Tonne – leere Teller"): Tafeln unterstützen Menschen nicht nur mit Lebensmitteln, sie sind oft auch Lebenshilfe. 20 Prozent derer, die diese Unterstützung in Anspruch nehmen, helfen auch selber bei den Tafeln.

DOMRADIO.DE: Wie helfen Sie über die bekannte Lebensmittelausgabe hinaus?

Brühl: Es gibt etwa Tafelgärten. Da bauen zum Beispiel Langzeitarbeitslose in einer Gartenparzelle Gemüse und Obst an und geben das dann an die Tafeln weiter. Die Tafeln geben aber auch Nachhilfe, ohne zu anderen sozialen Trägern konkurrieren zu wollen. Viele soziale Träger wie Caritas, Diakonie oder der Paritätische Wohlfahrtsverband, das Deutsche Rote Kreuz haben im Übrigen auch selber Tafeln. Da ist die Arbeit natürlich verzahnt. Und das hilft den Menschen, die zu den Tafeln kommen.

DOMRADIO.DE: Genau um die Arbeit geht es in dem Buch "Volle Tonne – leere Teller", das Sie gerade herausgegeben haben. Sie haben Debatten und Interviews mit den unterschiedlichsten Leuten geführt, mit Unternehmern, beispielsweise mit einem bloggenden Hartz-IV-Empfänger, mit Sterneköchen, Politikern, Würdenträgern aus Kirche und Gesellschaft, verurteilte Straftäter sind auch dabei. Was gewinnt man da für Erkenntnisse bei solchen Gesprächen?

Brühl: Dass in unserem Land nicht nur alles schlecht ist und dass es nicht nur Probleme gibt. Sondern, dass es Leute gibt, die anpacken und die auch Hoffnung haben. Es gibt viele Menschen, die sagen, dass wir als Gesellschaft gefordert sind, Dinge auch anzugehen.

Wir sind gerade in so einer Phase in unserer Gesellschaft, wo man den Eindruck hat, dass alles schlecht ist - nichts funktioniert. Ganz viele Leute sagen, dass dieses Land am Abgrund steht. Und gleichzeitig gibt es über 60.000 Ehrenamtliche bei den Tafeln.

Es gibt natürlich Millionen Ehrenamtliche in anderen Bereichen, aber die bei den Tafeln sagen: "Ja, wir erkennen Probleme. Wir erkennen Überfluss. Wir erkennen Mangel. Aber wir bleiben nicht im Regen stehen, sondern wir machen etwas." Und das ist so ein bisschen das, was dieses Buch als Ergebnis hat, dass die unterschiedlichen Sichtweisen am Ende doch immer eine Hoffnung vermitteln.

DOMRADIO.DE: Sie haben die Kritik gerade schon ein bisschen angesprochen. Es gibt Stimmen, die Ihnen zum Beispiel vorwerfen, die Hilfe der Tafeln sei nicht nachhaltig und würde das Problem der Armutsbekämpfung eher noch schlimmer machen, weil es den Druck tatsächlich verringert. Es hat sich vor ein paar Jahren sogar ein Aktionsbündnis gegründet, das kritisch mit der Arbeit der Tafeln umgeht. Und Sie haben in dem Buch auch mit solchen Kritikern gesprochen. Was findet man da für Erkenntnisse in so einem Gespräch?

Brühl: Ich glaube, dass man Ursache und Folgen gut im Blick haben muss. Und ich glaube, die Tafeln sind eine Folge. Ich habe das bei dem "Containern" im Sommer so erlebt, dass ich gefragt wurde, ob ich für die Entkriminalisierung des "Containers" bin – also, dass man Lebensmittel, straffrei aus dem Müll der Einzelhändler entnehmen darf.

Ich habe nicht verstanden, dass man nicht die Frage stellt: Warum kommen die Sachen in den Müll? Ich finde, man sollte sich die gesamte Wertschöpfungskette angucken, um die Ursachen zu bekämpfen und nicht über die Folgen zu diskutieren. Erklären Sie mal jemandem in Afrika, der solche Bilder sieht, dass wir so eine Diskussion führen.

Wenn es Tafeln gibt, dann ist es doch die Aufgabe von Gesellschaft und Politik, daraus eine Erkenntnis zu ziehen. "Oh, es gibt fast tausend Tafeln. Wie kann das sein? Was können wir tun? Was müssen wir ändern?" Tafeln sind nicht das Problem. Tafeln zeigen uns tagaus tagein, wie hoch unsere Verschwendung ist und dass es offensichtlich 1,65 Millionen Menschen gibt, die da dieses Angebot nutzen wollen, weil sie dadurch ihre Finanzen entlasten wollen.

Das halte ich auch für verständlich. Das würden wir genauso tun. Deshalb würde ich sagen: Gesellschaft und Politik muss jede Tafel auch als Spiegelbild erkennen und daran erkennen, was zu verändern ist.

DOMRADIO.DE: Sie haben auch mit Vertretern von katholischer und evangelischer Kirche gesprochen - unter anderem mit Ihrem Heimatbischof. Sie leben in Essen und haben mit Franz-Josef Overbeck gesprochen. Worum ging es da oder was hat er Ihnen gesagt?

Brühl: Es ging auch darum, dass jeder seine eigenen Herausforderungen zu bewältigen hat. In der katholischen Kirche ist das natürlich derzeit der Missbrauchsskandal, die Diskussion um den Umgang mit Frauen in der Kirche, mit dem Ehrenamt, dem Thema Homosexualität. Da gibt es sehr vieles, mit dem die Kirche derzeit beschäftigt ist. Doch da sind eben auch die anderen mit ihren Herausforderungen und Problemen. Diese dabei nicht zu vergessen, ist das Wichtige. Und in dieser Ambivalenz stecken viele von uns. Das fand ich sehr interessant, dass Ambivalenzen uns nicht davor bewahren darf, nicht Gutes zu tun.

Ich fand es sehr spannend, zu hören, dass die Kirche, trotz eigener Probleme, sich trotzdem für die einsetzt, die am Rande steht. Auch spannend fand ich, dass sich ein Ruhr-Bischof das Ruhrgebiet nicht schlechtreden lässt und er sagt: Da funktioniert vieles, da ist vieles gelungen. Diese Gespräche haben mir einen Innenblick eröffnet und das fand ich für mich auch sehr hilfreich.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

 

Jochen Brühl / © Oliver Mehlis (dpa)
Jochen Brühl / © Oliver Mehlis ( dpa )
Quelle:
DR