Naturheilpraxis für Obdachlose in Essener Kirchenräumen

"Wir sind da für die Menschen"

"Naturheilpraxis ohne Grenzen" – unter diesem Namen helfen Heilpraktiker, Osteopathen und psychologische Berater einmal in der Woche kostenlos Bedürftigen in der Essener Kirche Sankt Gertrud. Ein Interview mit Gründerin Heike Goebel. 

 (DR)

DOMRADIO.DE: Sie selbst sind im Hauptberuf eigentlich Ingenieurin. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, so eine mobile Naturheilpraxis auf die Beine zu stellen?

Heike Goebel (Gründerin des Vereins "Naturheilpraxis ohne Grenzen"): Das hat etwas mit meinem Hauptberuf zu tun. Ich durfte im Rahmen meines Unternehmens eine soziale Woche machen und habe währenddessen das Arztmobil in Essen kennengelernt. Ich fand diese Einrichtung ganz toll und habe beschlossen, dass ich da unbedingt mitarbeiten möchte. Ich habe meine Heilpraktiker-Ausbildung gemacht, vier Jahre lang in Wuppertal auf dem Arztmobil mitgearbeitet und dann festgestellt, dass ich gerne etwas Ganzheitliches für die Menschen in Not anbieten möchte.

DOMRADIO.DE: Dafür brauchten Sie Hilfe von Therapeuten, die sagen: Wir machen das und zwar ehrenamtlich. Wie haben Sie die gefunden?

Goebel: Die finden mich. Ich hatte eigentlich für mich beschlossen, dass ich in Essen eine kleine Praxis eröffne - möglichst stadtnah bei den Menschen, die in Not sind. Das hatte ich auf Facebook bekannt gegeben. Und dann kamen von allen Seiten Anrufe. Die Leute wurden über Facebook auf mich aufmerksam, haben mich per Mail angeschrieben, sie würden sich gerne engagieren. Inzwischen kommen die Anrufe aus ganz Deutschland.

DOMRADIO.DE: Sie bieten das Ganze in Räumen der katholischen Gemeinde Sankt Gertrud in Essen an. Wie ist denn der Kontakt zur Gemeinde zustande gekommen?

Goebel: Ich weiß, dass die katholische Kirche Sankt Gertrud eine sehr sozial eingestellte Kirche ist. Dort gibt es einen anderen Verein, die FairSorger Essen e.V., die sich dreimal die Woche um Menschen in Not kümmern und sie mit Essen versorgen. Ich hatte einfach das Pfarramt angefragt und bin sofort offene Türen eingerannt. Wir bekommen einmal in der Woche kostenlos Räume, was ein Riesenglück für uns ist.

DOMRADIO.DE: Was sind das genau für Räumlichkeiten?

Goebel: Das ist ein ganz großer Raum, über 50 Quadratmeter, in dem wir uns mit drei Stationen um die Menschen kümmern: mit der Inneren Medizin, mit psychologischer Beratung, mit manuellen Behandlungen. Die Menschen finden sehr leicht den Zugang zu uns.

DOMRADIO.DE: Wichtig auch für die Außenwirkung ist, dass Sie Prominente gefunden haben, die Sie unterstützen. Wer ist das?

Goebel: Das ist Sarah Wiener, die bekannte Köchin. Ich habe sie direkt angesprochen und sie hat sofort ja gesagt. Außerdem der Journalist Günter Wallraff aus Köln - auch er hat sofort ja gesagt.

DOMRADIO.DE: Wie genau greifen die Ihnen unter die Arme?

Goebel: Indem sie mir tatsächlich ihre Prominenz an die Seite stellen. Ich bin mit ihnen den Flyer durchgegangen, unsere Angebote, habe mit ihnen gesprochen, wo wir unsere Praxis zuerst eröffnen. Und sie helfen auch mit Rat und Tat und guten Tipps.

DOMRADIO.DE: Das Ganze ist noch gar nicht so alt - im vergangenen Herbst haben Sie den Verein gegründet. Dann haben sie losgelegt. Wie ging das praktisch?

Goebel: Ja, wir haben tatsächlich direkt losgelegt. Einmal bin ich bei den "FairSorgern" mitgelaufen, die die Menschen in Not mit Essen versorgen, habe dort das Angebot bekannt gemacht. Ich war dann in unserer ersten Sprechstunde ziemlich aufgeregt. Wir waren mit voller Besatzung anwesend und die ersten Patienten standen schon vor der Tür. Und dann sprach sich das herum wie ein Lauffeuer. Wir haben inzwischen über 70 Patienten und es werden von Woche zu Woche mehr.

DOMRADIO.DE: Seit einigen Monaten machen Sie das jetzt schon, jeden Mittwochabend von 18 bis 20 Uhr kostenlose Behandlung für Bedürftige. Das heißt, Ihr Angebot wird gut angenommen.

Goebel: Auf jeden Fall. Diese Erfahrung habe ich bereits auf dem Arztmobil gemacht, dass die Menschen es als unglaubliche Wertschätzung empfinden, wenn man sich einfach Zeit für sie nimmt, wenn man sie in der Anamnese auch ganz genau befragt, wie sich ihre körperlichen und psychischen Symptome ausdrücken und sie zum Beispiel in der manuellen Behandlung auch einfach berührt - im wahrsten Sinne des Wortes körperlich berührt aber auch seelisch.

DOMRADIO.DE: Jetzt sagen bestimmt einige Leute: Na ja, Obdachlose können doch froh sein, wenn sie eine medizinische Grundversorgung bekommen. Wozu brauchen die bitte Osteopathie? Was sagen Sie solchen Leuten?

Goebel: Ich sage ihnen: Wenn es Menschen gibt, die sich engagieren wollen - und die gibt es zuhauf, das ist meine Erfahrung - dann finde ich es völlig okay, dass man sich auch der Menschen annimmt, die völlig aus der Bahn geraten sind - und das kann jedem passieren - und diesen Menschen einfach etwas mehr gibt als das Mindestmaß.

Ich finde, gerade Menschen, die in Not sind, haben wirklich ganzheitlich Probleme. Und es geht ihnen wirklich schlecht. Wir werden am Ende keinen retten. Aber wir sind da für die Menschen, wir geben ihnen Halt und wir kümmern uns. Und das finde ich völlig legitim.

DOMRADIO.DE: Sie haben ja gerade gesagt, dass dieses "Berührt werden" gerade auch für Menschen auf der Straße einen ganz großen Wert hat. Vielleicht können Sie das nochmal erklären.

Goebel: Am Anfang war das gar nicht so einfach. Die Menschen kamen sehr, sehr schüchtern zu uns, wollten erstmal genau schauen, was wir da machen. Sie waren dankbar, wenn sie überhaupt erstmal eine Salbe bekommen haben und haben das Angebot der manuellen Behandlung auch erst einmal ausgeschlagen.

Allein Überwindung, dass sie ihre Jacke ausziehen müssen oder auch mal ihren Pullover, um angefasst zu werden, war groß. Weil sie sich natürlich auch schämen. Also, man darf nicht denken, dass sie sich nicht bewusst sind, in welchem hygienischen Zustand sie sich befinden. Und als die ersten sich das getraut haben, einfach nur mal ein paar Minuten behandelt zu werden... Allein die Augen dieser Menschen zu sehen. Die waren fast fassungslos. Und das sprach sich einfach ganz schnell herum.

DOMRADIO.DE: Wir sprechen jetzt über Wohnungslose und Obdachlose. Aber Sie machen auch Angebote zum Beispiel für Alleinerziehende. Also, Sie wollen einen ganz großen Kreis ansprechen.

Goebel: Genau. Wir sind nach unserer Satzung für Menschen in Armut und sozialer Not da. Das Thema ist natürlich am prominentesten bei wohnungslosen Menschen. Aber man darf nicht unterschätzen, wie groß die Armut auch in Deutschland ist. Das betrifft vor allen Dingen auch die alleinerziehenden Väter und Mütter, Kinder in Armut, aber auch Rentner und Senioren in Armut. Und die sprechen wir jetzt in weiteren Praxen an, weil wir gemerkt haben: Wir können die Menschen nicht so mischen. Sie mögen es nicht so, alle in eine Praxis geschoben zu werden.

DOMRADIO.DE: Sie haben große Pläne, wollen expandieren, auch in anderen Städten Naturheilbehandlungen kostenlos anbieten. Was genau haben Sie denn noch vor?

Goebel: Die Idee überholt sich schon fast selbst. Wir werden jetzt im März eine zweite Praxis in Essen eröffnen. Auch da haben wir das Glück, in einem Bürgeramt kostenlos Räume zu bekommen, ganz speziell für Familien, Kinder und Senioren in Armut. Wir planen eine zweite Praxis in Köln. Hier möchten sich die Therapeuten, die jetzt schon mit am Start sind, für Alleinerziehende und Kinder engagieren.

DOMRADIO.DE: Das Ganze hängt ganz viel an Menschen, die da freiwillig mitmachen. Aber Sie brauchen natürlich auch Geld. Wie stemmen Sie Ihre Projekte finanziell?

Goebel: Wir sind tatsächlich noch ein ganz junger Verein. Alle arbeiten ehrenamtlich, die Koordinatoren, die Therapeuten und ich. Aber ein bisschen Geld brauchen wir in der Tat für Miete oder die Praxis-Ausstattung. Wir bekommen auch ein paar Sachen gespendet - zum Beispiel Liegen, Stethoskope, aber auch Medikamente, die wir den Menschen vor Ort geben. Aber ein bisschen Geld ist nötig. 

DOMRADIO.DE: Was könnte man tun, um Sie zu unterstützen?

Goebel: Speziell in Köln suchen wir Räumlichkeiten, die wir gegen kleines Entgelt oder sogar kostenlos einmal in der Woche nutzen dürfen, um unser therapeutisches Angebot für Kinder und für alleinerziehende Mütter und Väter in Not anbieten zu können. Es muss kein großer Raum sein - 30 oder 40 Quadratmeter. Und auch in Essen suchen wir. Dort wollen wir gerne eine niedergelassene Praxis gründen, um noch intensiver für die Menschen in Not da sein zu können.

DOMRADIO.DE: Sie arbeiten Fulltime in Ihrem Hauptjob. Wie schaffen Sie das? Wie kriegen Sie all das noch nebenbei auf die Beine gestellt?

Goebel: Alle Therapeuten arbeiten Vollzeit. Die meisten Therapeuten arbeiten in ihren Praxen, ich habe tatsächlich sonst meinen Büroalltag. Mein Mann unterstützt mich. Und das ganze Projekt gibt mir unglaublich viel Kraft. Das kostet mich nicht viel Kraft, sondern gibt mir unglaublich viel. Es macht einfach nur Spaß und erfüllt unglaublich.

Das Interview führte Hilde Regeniter. 


Quelle:
DR
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