Franz Müntefering über das Altwerden

"Wir sind alle aufeinander angewiesen"

Laufen, lernen, lachen – so lautet das Rezept von Franz Müntefering für Lebensqualität im Alter. Denn Älterwerden sei eine spannende Sache, meint der ehemalige SPD-Spitzenpolitiker und spricht über notwendige Rahmenbedingungen.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Franz Müntefering / © Tomasetti (DR)
Franz Müntefering / © Tomasetti ( DR )

Nicht alle schaffen es an diesem Abend in den großen Saal des Düsseldorfer Maxhauses. Mancher Interessent muss an der Tür abgewiesen werden. Denn mit knapp 200 Zuhörern stößt der Raum an seine Kapazitätsgrenzen. Der Publikumszustrom indes ist Indiz dafür, dass das angekündigte Thema vielen unter den Nägeln brennt: Mit "Älterwerden in dieser Zeit" ist das 1758. Mittwochgespräch überschrieben.

Das betrifft viele – eigentlich über 20 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland: in der Summe 17,2 Millionen Menschen. Und wie sich dieses Leben jenseits der 65 noch gestalten lässt, welche Rahmenbedingungen die Politik steckt, aber welchen Beitrag auch der Einzelne dazu leisten kann, um dem Lebensabend ein Maximum an Lebensqualität abzugewinnen – das treibt viele um. Von dem angekündigten Referenten, dem langjährigen Mitglied des Deutschen Bundestages, ehemaligen Bundesminister für Arbeit und Soziales sowie SPD-Bundesvorsitzenden Franz Müntefering, Jahrgang 1940, versprechen sie sich Antworten auf eine der drängendsten Fragen unserer Zeit.

Eine spannende Sache

Älterwerden heiße leben und sei eine spannende Sache, definiert Müntefering dann auch zunächst positiv die Spanne, die für die meisten ab dem Rentenalter einsetzt. Immer noch gehe es in dieser Phase darum, "sich mit der Welt auseinanderzusetzen, in der wir leben". Sätze wie "Älter wirst Du von ganz alleine, darum musst Du Dich nicht kümmern" seien schlichtweg falsch und führten dazu, dass das Rentenalter heute bedauerlicherweise ein "freies Feld" sei. Man habe nicht gelernt, sich früh genug damit zu beschäftigen.

Dabei sei es der Teil Leben, der am Ende noch "obendrauf" käme, aber eben auch unter Umständen noch jahrzehntelang zu gestalten sei, betont Müntefering in seinem Vortrag. Ignorieren sei der völlig falsche Ansatz. Vielmehr müsse sich jeder fragen: Welchen Beitrag kann ich selbst zum Gelingen leisten, um meine Möglichkeiten – angesichts der hohen Lebenserwartung – zu nutzen? Und wie gehe ich mit dieser Chance um? Denn noch nie habe es in der Geschichte der Menschheit vergleichbar viele alte Menschen gegeben.

Aber natürlich sei das auch eine "Riesenherausforderung" für das Sozialgefüge, dass die Babyboomer von einst allmählich ins Rentenalter kämen. Schließlich müssten die Renten bezahlbar bleiben; gleichzeitig gelte es, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu verbessern.

Heiter und nachdenklich

Müntefering spricht – mal heiter, mal nachdenklich und oft mit eingestreuten Beispielen aus der eigenen Familiengeschichte – über Alltägliches beim Älterwerden: über Fragen der Mobilität und Begegnungsmöglichkeiten, über Kontaktinitiativen und Vereinzelung, über Gesundheit und Sterben, Solidarität und Nachbarschaftshilfe, über Einmischung, Mitverantwortung am Gemeinwohl und immer wieder über das persönliche Engagement als Chance zur Mitgestaltung von Gesellschaft und eigenem Glück. "Mir geht es um selbstinitiatives Handeln und einen aktiven Beitrag", sagt er und regt dazu an, Kontakte im persönlichen Umfeld zu pflegen oder zu suchen. "Wer von fünf Nachbarn den Vornamen kennt, lebt ein paar Jahre länger", scherzt er und meint ein solches Bonmot trotzdem ernst. So könne der tägliche Einkauf im Supermarkt – als eine Art Treffpunkt und fester Bestandteil der Tagesstrukturierung – ein Stück Lebenskultur sein, findet Müntefering. Rausgehen, die Begegnung suchen und Verabredungen zu einem gemeinsamen Mittagstisch oder zur Bewegung in der Gruppe – beim Walken oder Spaziergängen mit Rollator – bewahrten vor Einsamkeit und Rückzug in die Isolation. Miteinander zu essen und der daran gekoppelte Austausch, um zu erfahren, wie es dem anderen gehe, könne Lebensqualität bedeuten, zählt er weitere Beispiele auf. Miteinander reden und sich dabei anschauen seien zwar nur Kleinigkeiten, aber trotzdem wichtig. "Das Gespräch in unserer Gesellschaft, das Interesse aneinander und der Respekt vor der Lebensgeschichte des anderen, die wir uns mit Zeit und Geduld anhören sollten, dürfen nicht verloren gehen", mahnt Müntefering und ermutigt damit zu Gemeinschaftserlebnissen.

Klare Verantwortungszuständigkeiten definiert der Referent bei Themen wie der mangelnden ärztlichen Versorgung im ländlichen Raum, dem Rechtsanspruch auf eine umfassende palliative Begleitung von Menschen, die zuhause sterben wollten, oder auch der Betreuung von Demenz-Patienten in spezialisierten Zentren zur Entlastung der Angehörigen. Auch wie Menschen bei Frühverrentung, die ihrer Arbeit kräftemäßig nicht mehr gewachsen sind, aufgefangen würden oder Alleinlebende mit geringem Auskommen im Blick blieben – das alles seien Aufgaben des Staates oder auch von Kommunen, die hier die entsprechenden Sicherungssysteme schaffen müssten, formuliert der einstige SPD-Spitzenpolitiker. Doch darüber hinaus gebe es viele Unterstützungsangebote im Kleinen, bei denen sich jeder auch persönlich einbringen könne. "Helfen und sich helfen lassen – das ist das Zentrale, was uns Menschen ausmacht. Schließlich sind wir alle aufeinander angewiesen", sagt der Katholik Müntefering. Das könne man Solidarität oder aber auch Nächstenliebe nennen.

Für ein gesundes und kompetentes Altern

Am Ende verrät er auch noch sein ganz persönliches Rezept, um körperlich, mental und emotional fit zu bleiben. Es bestehe aus laufen, lernen und lachen. Sich Ziele setzen, ein sinnvolles Ehrenamt ausüben, neugierig bleiben, von eigenem Können etwas abgeben oder gegebenenfalls eine Patenschaft übernehmen – zum Beispiel für Schüler, die sich mit dem Lernen schwertun und keinen Abschluss schaffen – könnten das eigene Leben jenseits der Erwerbstätigkeit bereichern.

Seit gut drei Jahren ist der 78-Jährige ehrenamtlicher Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen – kurz BAGSO genannt. Darin haben sich über 100 Verbände mit vielen Millionen älteren Menschen zusammengeschlossen – als Interessenvertretung gegenüber Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Eines der Ziele der BAGSO ist, Wege für ein möglichst gesundes und kompetentes Altern aufzuzeigen. Als deren Botschafter ist Müntefering in der ganzen Republik unterwegs. Im vergangenen Jahr waren es allein 300 größere und kleinere Foren, die er für seine Mission genutzt und bei denen er seine Empfehlungen zu einem "guten Leben im Alter" präsentiert hat. Eine Zusammenfassung seiner Thesen wird demnächst auch als Buch erscheinen: "Unterwegs – Älterwerden in dieser Zeit". Der Titel ist Programm. Denn natürlich gibt der umtriebige Ruheständler darin Tipps, wie es gehen kann, auch im Alter "etwas möglichst Gutes aus dem Leben zu machen und Chancen nicht zu vertun", wie er rät. "Wir alle tragen Mitverantwortung. Die demografische Entwicklung ist eine Herausforderung – auch sich selbst zu helfen." Das Alter und die Älteren ein Problem? "Nein", beteuert Müntefering zuversichtlich, "sie sind auch die Lösung."


Rentnerpaar / © Stephan Scheuer (dpa)
Rentnerpaar / © Stephan Scheuer ( dpa )
Quelle:
DR