Caritas-Präsident Neher zum "Welttag der Armen"

"Wir kennen die Fakten seit langem"

Mit einem "Welttag der Armen" am Sonntag will die katholische Kirche arme Menschen in den Blick rücken.

Schriftzug "Armut!" an einer Wand / © Jens Kalaene (dpa)
Schriftzug "Armut!" an einer Wand / © Jens Kalaene ( dpa )

In Deutschland habe die jetzige Bundesregierung zumindest erste Schritte eingeleitet, sagt Caritas-Präsident Peter Neher - allerdings recht spät.

DOMRADIO.DE: Die Zahlen sind ja relativ dramatisch: 1,4 Milliarden Menschen weltweit leben in extremer Armut. Alle sechs Sekunden stirbt ein Kind an Unterernährung. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie solche Zahlen hören?

Prälat Dr. Peter Neher (Präsident des deutschen Caritasverbandes): Mir gehen natürlich viele Bilder durch den Kopf, die ich von meinen Auslandsbesuchen kenne: Ob das jetzt im Irak war, in Syrien oder in Nordvietnam - die Situation ist dramatisch. Und wichtig ist: Es sind immer einzelne Menschen, die leiden und nicht nur eine anonyme Masse.

DOMRADIO.DE: Jetzt sind wir in Deutschland zum Glück nicht ganz so schlimm dran, wie in den Ländern, die Sie gerade aufgezählt haben. Trotzdem gibt es auch hier bei uns in Deutschland Armut. Wie sieht die bei uns aus?

Neher: Die Armut ist bei uns sehr vielschichtig und oft beim ersten Hinschauen als solche gar nicht unbedingt zu erkennen. Es sind nach wie vor viele Alleinerziehende betroffen - überwiegend Frauen, Menschen die seit längerem arbeitslos sind, Menschen ohne Wohnung aber auch Menschen, die nach Fluchterfahrung in Deutschland angekommen sind. Es ist sehr differenziert. Und man muss im Einzelnen schauen, wo man konkret ansetzen kann, um gegenzusteuern.

DOMRADIO.DE: Da setzt nicht nur die Caritas an. Es ist Aufgabe der Politik, sich um die Menschen zu kümmern, die in Armut leben. Haben Sie das Gefühl, dass sich die Bundesregierung ernsthaft mit dem Thema befasst?

Neher: Es ist so: In der Vergangenheit konnte ich die unterschiedlichen Empörungs-Szenarien nicht mehr hören - ob das der Armuts-Reichtumsbericht war oder irgendeine andere Untersuchung. Und zwar deshalb, weil die Fakten seit langem auf dem Tisch liegen.

Ich nehme jetzt mal das Thema Kinderarmut. Durch die jetzige Bundesregierung sind wichtige Maßnahmen immerhin auf dem Weg: Der Kinderzuschlag und das Bildungs- und Teilhabepaket sollen reformiert werden. Ähnlich sieht es aus beim Thema Langzeitarbeitslosigkeit. Auch hier sind gesetzgeberische Maßnahmen eingeleitet, die vor allem denen zugute kommen sollen, die drei und mehr Jahre in einer verfestigten Arbeitslosigkeit stecken. Insofern würde ich sagen: Es sind wichtige Schritte auf dem Weg. Aber ich sage auch: endlich auf dem Weg, weil wir die Fakten seit langem kennen.

DOMRADIO.DE: Und in welchen Bereichen muss noch mehr passieren?

Neher: Bleiben wir bei den genannten Themen: Kinderarmut und Langzeitarbeitslosigkeit. Das sind erste wichtige Schritte, die das Thema aber noch nicht abschließend bewältigen.

Genauso wichtig ist außerdem das Thema Altersarmut. Die Frauen und Männer, die im Moment in Rente sind, sind im Großen und Ganzen noch in einer relativ guten Situation. Es gibt auch jetzt schon eine Altersarmut - vor allem bei Frauen, durch gebrochene Erwerbsbiografien. Aber das Ganze wird ein Thema der nächsten Jahre werden, wenn vor allem die Menschen in Rente kommen, die deutlich gebrochene Erwerbsbiografien - also lange Arbeitslosigkeiten - haben. Ich glaube, es ist wichtig, dass die Politik sich dessen annimmt.

Genauso sieht es aus beim Wohnungsmangel. Das ist ein zentrales Thema, das Menschen in eine Armutsfalle treibt, weil die Mieten einfach mittlerweile zum großen Teil Höhen haben, mit denen selbst die Mittelschicht überfordert ist.

DOMRADIO.DE: Wenn wir über das Thema Armut in Deutschland sprechen, kommen wir an Hartz IV nicht vorbei. Seit 15 Jahren ist das schon Diskussionsthema. Immer wieder gibt es Stimmen in der Politik - vor allem in der SPD, die ja selbst damals Hartz IV aus der Taufe gehoben hatte - die Grundsicherung in dieser Form zu reformieren. Wie stehen Sie als Caritas dazu? Ist Hartz IV wirklich die Wurzel des Übels an dieser Stelle?

Neher: Das würde ich so nicht sagen. Hartz IV ist besser als sein Ruf. Mit Hartz IV haben wir immerhin erreicht, dass auch Menschen in eine Förderung gekommen sind, die vorher einfach abgeschrieben waren und um die sich niemand mehr gekümmert hat. Gleichzeitig ist der Regel-Bedarf zu niedrig. Wir haben immer wieder angemahnt, dass in der Berechnung die tatsächlichen Bedarfe abgebildet sein müssen und wir gegenwärtig davon ausgehen, dass der Regelbedarf zirka 60 Euro höher liegen müsste, um tatsächlich eine Grundsicherung zu erreichen, die ein soziales Leben zumindest einigermaßen ermöglicht.

Eine andere Frage ist, ob der Begriff Hartz IV als solches schon so verbrannt ist, dass tatsächlich überlegt werden muss: Wie kann man das System reformieren? Von den Inhalten her aber bleibe ich dabei, dass es tatsächlich ein sinnvoller Ansatz war, der aber in der Ausführung oft schlecht gemacht war. Auch das ganze Thema Sanktionen ist völlig unangemessen, genauso wie die Frage nach dem angemessenen Wohnraum. Das alles sind Dinge, die Menschen schwer getroffen haben und vielen das Gefühl geben, dass sie in ihrer Würde nicht respektiert werden. Ich glaube, neben dem Inhalt wird mit dem Begriff ganz viel transportiert, was eigentlich stigmatisiert und ausgrenzt.

DOMRADIO.DE: Auf all das macht am Sonntag der Welttag der Armen aufmerksam, der von Papst Franziskus ausgerufen wurde. Wie begehen Sie als Caritas den Tag?

Neher: Wir verbinden den Tag seit letztem Jahr mit der Aktion "Eine Million Sterne", die mittlerweile bundesweit in über 80 Städten läuft. Sie wird von unserer Auslandsarbeit getragen, wird aber mit Inlandsthemen verbunden. Wir laden ein, Lichter zu entzünden, weltweite Solidarität zu üben, verknüpft mit dem Gedanken an arme Menschen - aber nicht im Sinne einer Erinnerungen, sondern als Auftrag, dass wir weltweit und in Deutschland mit Maßnahmen dafür eintreten, dass Armut überwunden wird.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch. 

Peter Neher

Peter Neher wurde 1955 in Pfronten-Ried im Allgäu geboren und wuchs auf dem Dorf in der Nähe von Memmingen auf. Er absolvierte zunächst eine Banklehre und den Wehrdienst, bevor er auf dem zweiten Bildungsweg Theologie studierte. 1983 wurde er zum katholischen Priester geweiht. Er arbeitete als Kaplan in Landsberg, war Krankenhaus-Seelsorger in Günzburg, wurde Pfarrer in Kempten und war in Augsburg in der Fortbildung von Priestern tätig. Seine Doktorarbeit schrieb er über christliche Sterbebegleitung.

Peter Neher (dpa)
Peter Neher / ( dpa )
Quelle:
DR