Paritätischer Wohlfahrtsverband fordert Umsteuern in der Sozialpolitik

"Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen"

Der Paritätische Wohlfahrtsverband warnt vor den Folgen der sozialen Spaltung und fordert ein Umsteuern. Sein Jahresgutachten belegt: Inzwischen sorgt sich ein Großteil der Bevölkerung um den Zusammenhalt der Gesellschaft.

 (DR)

DOMRADIO.DE: In ihrem aktuellen Gutachten zur sozialen Lage in Deutschland, sagen Sie: "Die Befunde sind alarmierend". Deutschlands Wirtschaft brummt, doch lange nicht alle Menschen profitieren davon. Im Gegenteil. Sie sagen, es muss was passieren, sonst ist der soziale Frieden in Gefahr. Wo liegen denn die Probleme in der politischen Umsetzung. Weshalb bekommt man das nicht in den Griff?

Rolf Rosenbrock (Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbandes): Ich glaube, dass die Politik noch nicht begriffen hat, dass die Sorgen der Bevölkerung ernst genommen werden müssen. Das wichtigste Problem, wenn man Umfragen macht, ist die Sicherung eines angemessenen Einkommens im Alter, das zweite wichtigste Problem ist die Sicherung gleicher Bildungschancen und dann kommen die Wohnungsprobleme.

Das sind alles Felder, auf denen in der Tat das Wissen und die Ressourcen ausreichen würden, um nicht nur symbolisch oder mit Modellprojekten irgendwas zu machen, sondern wo man durchgreifend tätig werden könnte. Das tut die Politik aber nicht. Und sie hat ein zweites großes Defizit. Sie scheut sich davor, die Bevölkerungsschichten, die das nun wirklich auch tragen könnten, zur Finanzierung heranzuziehen. Das sind etwa die oberen Einkommensschichten und die Vermögenden.

DOMRADIO.DE: Jetzt sagen Sie, dass sich mit nur 1,5 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes ganz viel ändern ließe. Wie könnte das gehen?

Rosenbrock: Wir haben eine ganze Reihe von konkreten und auch konkret durchgerechneten Programmen vorgelegt. Sie sprachen von der Rente. Wir sind der Auffassung, dass diese gesamte Politik, die gesetzliche Rentenversicherung zu schwächen und stattdessen neben Renten, Betriebsrenten und von privaten Finanzdienstleistern versprochene Leistungen zu fördern, abgestellt werden sollte. Das Geld soll umgeleitet in eine Stärkung der gesetzlichen Rentenversicherung werden. Dann wäre es auch möglich das Rentenniveau wieder auf 53 Prozent vom letzten Netto zu heben, was wir ja schon mal hatten.

DOMRADIO.DE: Sind wir in ihren Augen auf dem Weg vom Sozialstaat in puren Wirtschaftsliberalismus?

Rosenbrock: Wenn ich die Richtung überschlage, wenn ich mir überlege es würde alles so weitergehen, dann könnte dieses Urteil in einigen Jahren zutreffen. Andererseits muss man sehen: Deutschland ist nach wie vor ein ausgebauter Sozialstaat mit einer Sozial-Quote am Bruttoinlandsprodukt um die 30 Prozent. Das ist nicht wenig. Aber die Sozialquote ist in den Nullerjahren um zwei Prozent gesunken. Das klingt nicht viel, aber tatsächlich ist bei einem Bruttoinlandsprodukt von 3,3 Billionen pro Jahr jeder Prozent sind ungefähr 3,3 Milliarden Euro. Damit könnte man viel machen.

DOMRADIO.DE: Fast 90 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sorgt sich um den sozialen Zusammenhalt in der Tat. Sie haben den sozialen Wohnungsbau schon angesprochen. Die steigenden Mieten in den Städten sind gerade auch wieder Thema gewesen. Die bewirken, dass mittlere und niedrigere Einkommen teilweise über ein Drittel ihres Geldes fürs reine Dach über dem Kopf ausgeben müssen. Was bedeutet das für die Menschen und für die Arm-Reich-Schere?

Rosenbrock: Das bedeutet, dass eben von dem Geld, was man überhaupt hat, viel weniger übrig bleibt, um real am soziokulturellen Leben teilzunehmen und um sich dazugehörig zu fühlen. Sozialer Zusammenhalt heißt grob gesprochen nichts anderes, als das begründete Gefühl als respektiertes Mitglied eines halbwegs funktionierenden Gemeinwesens zu leben. Und je mehr dieses Gefühl zurückgeht, desto mehr treten dann die Nachteile auf. Sozial schlecht gefügte Gesellschaften sind unproduktiver, es gibt mehr Konflikte, sie kennen mit Krisen schlechter umgehen, das Vertrauen im Alltag nachlässt.

Man muss auch sagen die Menschen in solchen Gesellschaften sind auch öfter und schwerer krank und sterben früher. Da haben die Bevölkerungen offenbar ein sehr viel besseres Gespür für das, was wichtig ist, als die Politik, die sich da von den Rechtsradikalen dazu treiben lässt, vorwiegend über Flüchtlinge zu diskutieren. Ein Problem was in den Umfragen ganz hinten rangiert. Aber darüber wird geredet. Es wird nicht darüber geredet und schon gar nicht gehandelt, wo die Bevölkerung wirklich leidet.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.


Quelle:
DR