Trauer auch 20 Jahre nach Zugunglück

"Eschede muss Mahnung sein"

Der kleine Ort wird 1998 zum Synonym für eine Katastrophe, bis heute. Beim schwersten Bahnunglück in der Geschichte der Bundesrepublik sterben 101 Menschen. 20 Jahre danach ist das Leid der Angehörigen geblieben.

Ein ICE-Zug fährt an der mit 101 Kirschbäumen bepflanzten Gedenkstätte in Eschede vorbei / © Holger Hollemann (dpa)
Ein ICE-Zug fährt an der mit 101 Kirschbäumen bepflanzten Gedenkstätte in Eschede vorbei / © Holger Hollemann ( dpa )

Am 3. Juni 1998 rast der ICE 884 auf seinem Weg von München nach Hamburg durch Niedersachsen. Kurz vor 11 Uhr kommt es an diesem warmen Sommertag in der Südheide zur Katastrophe. Bei Tempo 200 bricht kurz vor Eschede ein Radreifen und bleibt stecken. Weichen werden verstellt, das Gleisbett aufgepflügt, eine Brücke stürzt ein, entgleiste Waggons rasen in die Trümmer. 101 Menschen sterben beim schwersten Zugunglück in der Geschichte der Bundesrepublik, rund 100 werden verletzt.

"Zeit heilt keineswegs alle Wunden"

Gisela Angermann hat ihren Sohn Klaus durch die Katastrophe verloren, der 29-Jährige wollte nach Hamburg. "Ich habe den Fernseher angemacht und gehört, dass eine Brücke auf einen Zug gefallen ist", schildert die 80-Jährige den verhängnisvollen Tag vor 20 Jahren. "Dann kam meine Tochter und hat gesagt: "Mutter setz dich hin. Klaus war in dem Zug." Drei Tage nach dem Unglück haben sie im Krankenhaus die Maschinen abgeschaltet."

"Je älter ich werde, desto präsenter ist es", sagt die heute 80-Jährige, sie lebt in Göttingen. "Zeit heilt keineswegs alle Wunden, es wird nur blasser." Angermann hat der Bahn Überheblichkeit vorgeworfen, hat von einem Prozess Aufklärung und Linderung erhofft, vergeblich. Sie hat Medikamente genommen und wurde frühpensioniert.

Die Opferzahlen stiegen

Heinrich Löwen hat am 3. Juni 1998 Frau Christl (50) und Tochter Astrid (26) verloren. "Ich habe die beiden früh am Morgen zum Bahnhof gebracht", sagt der ergraute Niederbayer. "Dann sind sie in Nürnberg in diesen Zug gestiegen", erinnert er. "Es waren damals Ferien. Ich habe meine andere Tochter betreut, sie ist behindert."

Am Mittag schaltet Löwen das Radio ein. "Es habe einen Zugunfall gegeben, hieß es zunächst nur. Dann stiegen ständig die Opferzahlen." Ihm war nicht klar, ob es der Zug mit Frau und Tochter war. "Die angegebenen Telefonnummern waren besetzt, man war im höchsten Maß besorgt", so Löwen.

Drei Tage später steht die Polizei vor der Tür, die Tochter ist tot. "Erst nach einer Woche habe ich erfahren, dass auch meine Frau tot ist", sagt Löwen. Drei Wochen nach der Tragödie gründet er die Selbsthilfegruppe der Hinterbliebenen.

"Wie ein Phantomschmerz"

"Es gibt eine Zeit vor Eschede und eine Zeit nach Eschede in meinem Leben. Das war eine persönliche Zeitenwende", schildert Löwen die Folgen. "Im Alltag tritt es zwar in den Hintergrund, doch ist es immer wieder präsent. Auch an Jahrestagen wie dem bevorstehenden holt es einen wieder ein", sagt er.

"Das ist wie ein Phantomschmerz, es fehlt immer etwas. Eine intakte Familie wurde zerstört", erklärt er. "Es war eine extrem harte und schwere Zeit. Da hat die Arbeit für die Selbsthilfe Eschede sehr geholfen, der Kontakt mit anderen Betroffenen. Man hat versucht, etwas zu tun."

Der Umgang mit der Trauer sei bei den Betroffenen ganz unterschiedlich, so Löwen. "Eine sinnvolle Aufgabe zu haben, hilft weiter. Einige gehen in die Kirche, andere in die Natur", weiß er. "Es hilft, Menschen zu haben, die sich auf einen einlassen und das mit aushalten."

Es gebe auch Fälle, wo es immer schwerer für Überlebende werde. "Es gibt keine Angehörigen mehr, sie vereinsamen", sagt Löwen. "Da gibt es Fälle, wo Betroffene den Lebensmut verlieren und sogar an gebrochenem Herzen sterben, das ist nicht zu pathetisch gesagt", betont der sonst eher nüchterne Bayer. Auch für die verletzten Überlebenden werde es in vielen Fällen schwerer. "Die unfallbedingten Einschränkungen nehmen altersbedingt zu."

Ein weiterer Schritt der Verarbeitung

"In den ersten Jahren ist es eine brennende, den Menschen zerreißende Trauer", schildert Psychologe Georg Pieper die Folgen einer Katastrophe wie Eschede. "Das wird im Laufe der Jahrzehnte für viele ruhiger. Es bleibt aber eine immer lodernde Flamme." Pieper hat Opfer und Angehörige der ICE-Katastrophe betreut. Er gilt als einer der erfahrensten Trauma-Experten und ist seit 40 Jahren therapeutisch tätig, so auch nach dem Amoklauf von Erfurt 2002 und dem Grubenunglück von Borken 1988.

"Ein Jahrestag ist ein weiterer Schritt der Verarbeitung, wenn man Trauergefühle zulässt und mit anderen teilt", sagt Pieper mit Blick auf den kommenden Sonntag. "Auch zwanzig Jahre danach ist das Unglück an einem solchen Gedenktag den Angehörigen präsent", erklärt er. "Das kann zu Alpträumen und psychosomatischen Beschwerden führen. Auch Trauer, Wut und Zweifeln, ob man es geschafft hat, das zu bewältigen, gehören dazu."

Man sollte sich einem solchen Tag aktiv stellen, rät der Krisenpsychologe. "Es ist empfehlenswert, sich mit anderen Betroffenen zu treffen und gemeinsam das Schwere zu tragen."

Peer Körner


Unfallstelle in Eschede  / © Ingo Wagner (dpa)
Unfallstelle in Eschede / © Ingo Wagner ( dpa )

Gisela Angermann verlor ihren Sohn / © Swen Pförtner (dpa)
Gisela Angermann verlor ihren Sohn / © Swen Pförtner ( dpa )

Heinrich Löwen / © Holger Hollemann (dpa)
Heinrich Löwen / © Holger Hollemann ( dpa )

Der Psychologe Georg Pieper / ©  Andreas Klein (dpa)
Der Psychologe Georg Pieper / © Andreas Klein ( dpa )
Quelle:
dpa