Seelsorger zum Gedenken an Berliner Anschlag

"Die Frage nach dem Warum bleibt"

Sie waren nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin schnell vor Ort und leisten auch im Nachgang weiter Hilfe: Notfallseelsorger aus dem Erzbistum Berlin. Ein Jahr danach kommen nun wieder viele Emotionen hoch.

Einsatzjacken von Notfallseelsorgern / © Marius Becker (dpa)
Einsatzjacken von Notfallseelsorgern / © Marius Becker ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie ergeht es heute denen, die den Anschlag damals miterlebt haben oder dabei jemanden verloren haben?

Bruder Norbert Verse (Salesianer und Diözesanbeauftragter für Notfallseelsorge im Erzbistum Berlin): Einiges dazu werden wir sicherlich heute Nachmittag neu erfahren, weil sich mit dem gestrigen und dem heutigen Tag bei den Betroffenen und Angehörigen wahrscheinlich noch einiges tut - erst Recht, wenn heute die Gedenkstätte eingeweiht wird. Aber viele sind natürlich noch "auf dem Weg". Es ist etwas anderes, als wenn ich im privaten Umfeld einen lieben Menschen verliere, als bei einem solchen Ereignis - und dann auch noch in einer so geprägten Zeit, wie der Vorweihnachtszeit.

DOMRADIO.DE: Kann es denn - ganz vorsichtig formuliert - "hilfreich" sein, wenn man weiß, dass ganz viele andere auch von so einem Leid betroffen sind?

Verse: Das ist durchaus eine Hilfe. Viele haben sich in kleinen Runden zusammengefunden, die auch durch andere Organisationen, die mit Betroffenen und Hinterbliebenen arbeiten, begleitet werden. Da ist manchmal das Verständnis untereinander groß, weil man selbst genau weiß, was der andere fühlt und wie es ihm geht. Das kann sehr oft eine Hilfe und Unterstützung sein.

DOMRADIO.DE: Wenn die Hinterbliebenen und Angehörigen heute bei den Gedenkveranstaltungen zusammenkommen, kann das die Wunden eher wieder aufreißen oder ist es doch vielleicht eher hilfreich?

Verse: Die Erfahrungen anderer Jahresgedenken oder Gedenkveranstaltungen zeigen, dass es hilfreich ist. Natürlich kommen Emotionen und bestimmte Bilder wieder hoch, wenn man selber mit vor Ort war. Aber insgesamt ist es doch etwas Hilfreiches. Wir kennen das aus unserem kirchlichen Verlauf zumindest von früher auch noch, wenn man an das Sechswochenamt oder das Jahrgedächtnis denkt, dass dies schon Zeitabschnitte sind, die begleiten und hilfreich sein können.

DOMRADIO.DE: Heute könnte nun auch die Frage nach dem "Warum" wieder auftauchen. Wieso konnte Gott das zulassen? Was antworten Sie da als Seelsorger?

Verse: Das ist immer eine sehr schwierige Frage. Es gibt Situationen wie zu diesem Ereignis, wo man dasteht und sagt, dass man darauf nicht wirklich eine Antwort geben kann. Eines ist klar: Dieses Ereignis ist nicht von Gott gemacht, sondern ist von Menschen hervorgerufen worden. Das ist ganz wichtig. Uns bleibt immer die Antwort, dass der Mensch in Freiheit lebt und freie Entscheidungen treffen kann. Warum man aber nicht solche Entscheidungen händeln kann oder Gott sagt, einen Unschuldigen dürfe es nicht treffen, darauf haben wir wahrscheinlich letztlich, so lange wir leben, nie eine Antwort.

DOMRADIO.DE: Nach so langer Zeit kommt nun auch noch scheibchenweise ans Licht, dass der Attentäter Anis Amri offensichtlich aktenkundig war und die Tat möglicherweise hätte verhindert werden können. Was bedeutet das für die Angehörigen?

Verse: Das ist sicherlich noch einmal ein großer Einschnitt in der Bewältigungsarbeit. Da tauchen natürlich immer wieder Fragen auf. Das sorgt für eine ganz große Orientierungslosigkeit und Ratlosigkeit. Das kann auch damit einhergehen, dass es einem selber in der Seele auf und ab geht, Stimmungsschwankungen mit dabei sind und in die Trauer um den Verlust des lieben Menschen auch Wut und Sorge wieder aufkommen. Dies äußert sich dann vielleicht in der Frage, warum der Staat da nicht anders schützen und arbeiten konnte. Denn das Ziel eines solchen Anschlags ist in der Regel nicht die einzelne Person oder sind die Menschen, die dort auf dem Weihnachtsmarkt waren, sondern es ist ja mehr gegen eine Institution gerichtet, in dem Fall wahrscheinlich gegen den Staat, gegen unser Land. Das macht natürlich sprachlos und überaus hilflos.

DOMRADIO.DE: Gestern hat Bundeskanzlerin Merkel Angehörige getroffen, heute ist unter anderem Bundespräsident Steinmeier bei den Gedenkveranstaltungen vor Ort mit dabei. Glauben Sie, dass deren Anwesenheit eine etwas spät kommende, aber dennoch hilfreiche Sache ist?

Verse: Das haben sowohl Helferinnen und Helfer gehört, ist zudem in den Medien zu entnehmen, dass es den Angehörigen zu spät kommt, eben weil ein solcher Terrorakt ja gegen den Staat, gegen das Land gerichtet ist. Sie hätten sich das sicher früher gewünscht. Die Reaktionen in der nächsten Zeit werden zeigen, wie hilfreich und unterstützend dieses Signal dann vielleicht doch war. Ich habe auch gehört, dass das Treffen gestern um einige Zeit länger gedauert hat, als es ursprünglich gedacht war. Von außen gesehen ist es vielleicht ein gutes Zeichen, dass man gut ins Gespräch und Kontakt gekommen ist - egal mit welcher Emotion. Aber es war offensichtlich etwas da und die Menschen haben sicherlich etwas von ihren Sorgen, ihren Ängsten und ihrer Wut dort lassen können und vielleicht auch ein kleines bisschen mitnehmen können.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.


Quelle:
DR
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