Soziologin fordert ausgewogenere Hilfe für Menschen in Not

"Hilfsorganisationen entscheiden lassen, wo das Geld eingesetzt wird"

In der Adventszeit spenden die Deutschen traditionell besonders viel. Die Soziologin Monika Krause hat die organisierte Arbeit von Hilfswerken kritisch unter die Lupe genommen und spricht im Interview über Grenzen und Chancen von Hilfen.

Hilfsgüter für Rohingya-Flüchtlinge / © Kamran Jebreili (dpa)
Hilfsgüter für Rohingya-Flüchtlinge / © Kamran Jebreili ( dpa )

KNA: Warum wollen Menschen helfen, gerade auch zur Weihnachtszeit?

Krause: Menschen suchen nach Bedeutungsquellen, und sie reagieren auf das Leid anderer. Zum einen findet das seinen Ausdruck in Solidarität, die eher auf Leute beschränkt ist, die einem sehr ähnlich sind. Mit der Globalisierung, aber auch schon vorher über das Christentum, gibt es zusätzlich die Tradition, für das Leid anderer ansprechbar zu sein, mit denen man eigentlich gar nichts gemein hat.

Das ist das Besondere an der Nothilfe, die ich für mein Buch "Das gute Projekt" untersucht habe.

KNA: Sie haben die Arbeit verschiedener Hilfsorganisationen untersucht. Was hat sie am meisten überrascht?

Krause: Mich hat beeindruckt, wie groß der logistische Aufwand dieser Arbeit ist – und damit, wie hoch die technische Kapazität dieser Organisationen ist. Wenn man abstrakt über Nichtregierungsorganisationen diskutiert, übersieht man leicht die Infrastruktur, die diese Arbeit möglich macht: wie die Dinge, die die Menschen zum Überleben brauchen, sie tatsächlich erreichen. Menschenrechtsorganisationen zum Beispiel haben ja im Unterschied zu Nothilfeorganistionen kaum Leute vor Ort.

Angesichts der Vielzahl von Problemen, auf die humanitäre Hilfe antwortet, ist es überraschend, dass die Programme sich so ähnlich sind: Nothilfeorganisationen helfen bei Naturkatastrophen wie Flut und Sturm, bei Krankheiten wie Ebola und Aids und auch bei aktueller Gewalt, etwa bei Bürgerkriegen.

Organisationen sind in ganz verschiedenen Problemfeldern und Zusammenhängen aktiv, arbeiten aber alle mit einem bestimmten Budget- und Zeitrahmen, in einer Reihe von technisch festgelegten Sektoren.

KNA: Stößt die Hilfe also an Grenzen?

Krause: Die Nothilfe gibt es ja nur deswegen, weil lokale Institutionen oder Staaten versagen. Es hat eine lange Tradition, dass die Helfer sagen: Uns wäre es lieber, wenn wir nicht gebraucht würden. Es sollte in der Tat mehr langfristige internationale und nationale Infrastrukturprojekte geben, die Nothilfe überflüssig machen.

KNA: Sie kritisieren in Ihrem Buch nicht, dass es Nothilfe gibt, sondern bestimmte Strukturen. Was sind die Knackpunkte?

Krause: In der Nothilfe gibt es vor allem sehr kurzfristig angelegte Maßnahmen. Dadurch werden sowohl die langfristigeren Ursachen ausgeblendet als auch die langfristigeren Lösungsmöglichkeiten. Diese Kurzfristigkeit ist allerdings nicht nur ein Problem der Nichtregierungsorganisationen, sondern auch der staatlichen Geber – also des Auswärtigen Amtes und des Bundesentwicklungsministeriums in Deutschland oder auch der humanitären Abteilung der EU-Kommission. Sie stellen Geld nur mit sehr kurzfristigen Vorgaben zur Verfügung.

Ein weiteres Problem ist, dass schon in der Definition von Nothilfe eine Spaltung entsteht: zwischen lokalen Helfern und denen, die von außen kommen. Wenn es um internationale Nothilfe geht, dann kommen die lokalen Akteure – Staaten, Kirchen, lokale Organisationen – oft nur im Nachhinein oder als Auftragnehmer in den Blick. Viele Hilfsorganisationen arbeiten daran und bauen Beziehungen zu lokalen Anbietern auf. Aber es bleibt ein Problem.

KNA: Gibt es Unterschiede zwischen den Hilfswerken?

Krause: Ein Unterscheidungsmerkmal ist, wie eng mit Staaten zusammen gearbeitet wird. "Ärzte ohne Grenzen" positioniert sich beispielsweise als Organisation, die ihre eigenen Entscheidungen trifft, die auch dahin geht, wo andere nicht hingehen und die sehr vorsichtig ist, dass sie nicht von außenpolitischen Interessen instrumentalisiert werden. Ein anderes Unterscheidungsmerkmal ist, wie viel Mitspracherecht den betroffenen Menschen eingeräumt wird.

Das ist den Organisationen, die aus der Entwicklungszusammenarbeit kommen, oft wichtiger.

KNA: Sie beschreiben in Ihrem Buch eine Verschiebung von klassischer Entwicklungshilfe zur Nothilfe, über die inzwischen die meisten Gelder fließen. Welche Rolle spielt diese Verschiebung?

Krause: Die humanitäre Hilfe ist auch aus der Frustration über die Entwicklungshilfe entstanden. Es gibt Menschen, die in der Entwicklungshilfe gearbeitet haben und nicht damit zufrieden waren, was sie erreichen konnten. Sie sagen: Wenn ich in der Nothilfe schnell genug bin, macht das wirklich einen Unterschied – weil ich Menschen retten kann, die sonst sterben würden, etwa durch Krieg oder behandelbare Krankheiten.

KNA: Das kann man nachvollziehen.

Krause: Ja, aber es hat auch eine Kehrseite, wenn die Messbarkeit von Resultaten zu stark betont wird. Man muss sich fragen, was kaum mehr finanziert wird, weil es nach diesen Kriterien nicht messbar ist, aber trotzdem wichtig wäre. Man kann gut erklären, dass man viele Zelte an einen Ort schickt, wo Menschen bei einem Erdbeben obdachlos geworden sind – langfristige Bildungsmaßnahmen kann man dagegen schwerer darstellen.

KNA: Was müsste sich ändern?

Krause: Man muss den Mut finden, langfristige Probleme als langfristige Probleme anzugehen. Ein Beispiel sind die Flüchtlingslager in Teilen Afrikas, teilweise auch im Nahen Osten: Sie sind inzwischen Lebenswelt von mehreren Generationen; Menschen sind dort geboren und aufgewachsen. Eine politische Auseinandersetzung darüber ist nicht leicht. Aber es ist keine Lösung, so zu tun, als wäre das Problem in einem halben Jahr, nach dem nächsten Projektdurchlauf, irgendwie gelöst.

KNA: Welche Rolle spielen die Medien?

Krause: Eine große: Sie helfen den Hilfsorganisationen, Gelder einzutreiben – und sie haben Einfluss auf politische Prozesse. Bisher ist die Berichterstattung teils sehr unausgeglichen. Manche Katastrophen ziehen riesige Aufmerksamkeit auf sich, etwa der Tsunami in Südostasien. Dafür haben die Menschen viel gespendet, was natürlich ein guter Gedanke ist. Aber man sollte den Hilfsorganisationen den Freiraum lassen, zu entscheiden, wo das Geld am besten eingesetzt wird. Die Krisen, die am meisten Beachtung finden, sind nicht immer die, wo die Not am größten ist.


Quelle:
KNA
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