Armutsrisiko Pflege

Angehörige in der Zwickmühle

Von den 2,9 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden fast zwei Drittel zu Hause von Angehörigen versorgt. Trotz Pflegereform droht vielen von ihnen ein Leben in Armut und wachsender Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt.

Autor/in:
Ina Rottscheidt
Häusliche Pflege / © Ina Rottscheidt (DR)
Häusliche Pflege / © Ina Rottscheidt ( DR )

Wenn Andrea Siedler mit ihrer Oma morgens nach dem Aufstehen gemeinsam singt, legt sich ein zufriedenes Strahlen über das runzelige Gesicht der alten Dame. Es ist immer das gleiche Lied, das die Oma ihrer Enkelin früher selbst vorgesungen hat. Mittlerweile ist sie fast 99 Jahre alt, sie kann nicht mehr sehen und hat fortgeschrittene Demenz. Doch an die Strophen erinnert sie sich immer noch. Und es diene ihr als Orientierung, erklärt Andrea Siedler, da die Oma aufgrund ihrer Demenz morgens nach dem Aufwachen ihr Zuhause nicht wiedererkennt. "Das nimmt ihr die Angst", erklärt die Enkelin. 

Seit dem Tod ihrer eigenen Mutter vor 13 Jahren pflegt Andrea Siedler die Oma, denn aus ihrer Familie gibt es niemand mehr, der helfen könnte. Das ermöglicht der alten Dame, weiterhin in ihrer sonnigen Zweizimmerwohnung in einem Bonner Vorort zu wohnen, da, wo sie schon seit über 40 Jahren lebt. Als die Diagnose "Demenz" im Alter von 80 Jahren kam, war die Großmutter körperlich noch fit. Doch mittlerweile braucht sie rund um die Uhr Betreuung. Andrea Siedler wäscht und kocht, zieht sie an, wechselt Verbände und geht mit ihr spazieren. Mehrmals steht sie nachts auf, wenn die Oma unruhig schläft. Zeit für eine richtige Arbeit bleibt da nicht, die 52-Jährige lebt von  Hartz IV – rund 500 Euro hat sie im Monat zur Verfügung.

Pflege macht arm

So wie Andrea Siedler ergeht es Vielen. Denn von den 2,9 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden mehr als zwei Drittel zu Hause betreut. Zu 85 Prozent sind es Frauen, die sich kümmern: Viele hunderttausend Ehefrauen, Töchter, Schwiegertöchter und Enkelinnen und bei vielen sei die Armut vorprogrammiert, sagt Susanne Hallermann, die den Verein "Armut durch Pflege" gegründet hat: "Viele pflegende Angehörige können nicht mehr beruflich tätig sein, müssen teilweise oder sogar ganz reduzieren. Sie verbrauchen ihre finanziellen Reserven auf, so dass sie nachher Arbeitslosengeld II erhalten", erklärt sie. "Hartz IV geht schneller als man denkt."

63 Stunden beträgt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit einer Pflegeperson, das hat eine Studie der Hans-Boeckler-Stiftung herausgefunden. Dass da nebenbei keiner mehr arbeiten kann, ist offensichtlich. Und das nicht nur für ein paar Monate: Im Schnitt pflegen Angehörige neun Jahre – auch das ein Ergebnis der Studie.

Pflege macht einsam

Auch Andrea Siedler hatte sich nicht ausgemalt, dass ihre Oma so alt wird. Bald feiert sie ihren 99. Geburtstag. Die Rund-um-die-Uhr-Betreuung verlangt der Enkelin viel ab: sie ist ständig angespannt, der Rücken und die Knie schmerzen ihr und die Einsamkeit sei manchmal schwer zu ertragen, sagt sie, denn Freizeit hat sie kaum und Besuch wird immer seltener.

Richtig Sorgen macht der 52-Jährige aber die Zukunft. Wird sie noch mal einen Job finden? – Andrea Siedler weiß es nicht. "Und die Rente ist natürlich ein Witz", sagt sie. Knapp 500 Euro stehen in ihrem aktuellen Rentenbescheid. "Damit kann ich wirklich nicht  überleben, das macht mir wirklich Angst", sagt sie.

Pflege macht im Alter arm

Auch damit ist sie nicht alleine. Zwar trat am 1. Januar 2017 das Pflegestärkungsgesetz in Kraft, mit dem pflegende Angehörige besser unterstützt werden sollen, auch dadurch, dass die Pflegekasse Rentenbeiträge abführt. Aber das reiche bei weitem nicht, kritisiert Susanne Hallermann von der Initiative "Armut durch Pflege": "Zum Beispiel bei Pflegegrad 5, das ist die höchste Stufe, die man erhalten kann, bekommt die pflegende Person pro Jahr Pflege später 29,75 Euro zusätzlich monatliche Rente. Aber nur, wenn sie keine fachliche Hilfe in Anspruch nimmt. Wenn ich mir hingegen Hilfe durch ambulante Pflegekräfte nach Hause hole, wird mir das prozentual abgezogen. Aber Pflegegrad 5 bedeutet: 24 Stunden Pflege, das schafft man gar nicht alleine."

Die Versprechen der Politik hält sie daher für "eine Vorspiegelung falscher Tatsachen". Sie stellt klar: "Pflegende Angehörige sind nicht ausreichend abgesichert. Und die Mehrzahl sind Frauen, sodass die Altersarmut vorprogrammiert ist und dass, obwohl sie dem Sozialstaat und der Gesellschaft hohe Kosten ersparen."

Alternative Heim?

Tatsächlich zahlen Pflegekassen bei der Unterbringung in einem Heim deutlich mehr als bei der ambulanten Pflege zu Hause. Für Andrea Siedler war das trotzdem nie eine Option, sie ist sich sicher: Dort würde niemand mit ihrer Oma singen, nachts aufstehen, um nach ihr zu schauen oder mit ihr spazieren gehen.

Solange es das Wetter noch zulässt, geht sie mit ihrer Oma spazieren. Das ist mühsam, denn die alte Frau kann keine Treppen mehr steigen. Mit einem motorbetriebenen Treppensteiger hievt sie die alte Dame dann aus dem zweiten Stock nach unten. Dafür brauche man sehr viel Geduld, sagt sie und lacht. Denn die hat sie auch nicht immer.

Trotzdem alles richtig gemacht?

Es sind die letzten Herbsttage. Andrea Siedler hat die Oma im Rollstuhl runter an den Rhein geschoben. Sie setzt sich neben sie auf eine Bank, zupft noch einmal die Decke zurecht, damit die Oma nicht friert. Dann schauen beide zufrieden auf das Siebengebirge auf der anderen Rheinseite. Und manchmal, mit ein bisschen Nachhelfen, erinnert sich die Oma sogar an den Drachenfels und den Petersberg. Für Andrea Siedler sind das kleine Momente des Glücks. Dann weiß sie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat: "Es fühlt sich richtig an. Trotz der ganzen Schwierigkeiten, trotz der Müdigkeit", sagt sie. "Ich glaube, das ist das Allerwertvollste, was man für einen anderen Menschen machen kann: für ihn da sein, seinen Schmerz und sein Leid lindern und ihm die Angst nehmen. Und so lange ich die Kraft dazu habe, werde ich weitermachen."


Andrea Schneider mit ihrer Oma / © Ina Rottscheidt (DR)
Andrea Schneider mit ihrer Oma / © Ina Rottscheidt ( DR )
Quelle:
DR