Urteil über unterlassene Hilfeleistung in Bank

Ergebnis einer abstumpfenden Gesellschaft?

Ein Rentner bricht in einer Bank zusammen, Kunden steigen über ihn, ohne zu helfen. Der 83-Jährige stirbt später. Sind das Anzeichen einer verrohenden Gesellschaft? Der Kapuzinerpater Paulus Terwitte hat dazu seine eigene Meinung.

Strafprozessordnung auf dem Richtertisch / © Patrick Seeger (dpa)
Strafprozessordnung auf dem Richtertisch / © Patrick Seeger ( dpa )

domradio.de: Das Amtsgericht Essen-Borbeck hat drei Bankkunden wegen unterlassener Hilfeleistung zu Geldstrafen zwischen 2.400 und 3.600 Euro verurteilt. Der Strafrichter sah es als erwiesen an, dass die Angeklagten - eine Frau und zwei Männer - einem 83-jährigen Mann im vergangenen Jahr nicht geholfen haben, der unübersehbar hilflos in dem Vorraum einer Bankfiliale auf dem Boden lag. Erst ein fünfter Kunde rief per Handy einen Rettungswagen, der den Rentner ins Krankenhaus brachte. Dort starb er eine Woche später. Die zeitliche Verzögerung habe den tödlichen Krankheitsverlauf nicht beeinflusst, so das Gericht. Zu ihrer Verteidigung sagten die Angeklagten, sie hätten den Mann für einen schlafenden Obdachlosen gehalten. Was sagen Sie dazu?

Bruder Paulus Terwitte (Kapuzinerpater und Medienexperte): Ich glaube, dass man verpflichtet ist, wenn Menschen auf dem Boden liegen, erst einmal hinzugehen und das Gespräch zu suchen und zu fragen, ob man Hilfe benötigt. Wenn jemand so auf dem Boden liegt, wie die Kamerabilder zeigen, dann muss man entsprechend handeln. Ich frage mich allerdings auch - wenn es in einer Bank Überwachungsvideos gibt - wer denn da eigentlich überwacht. Da werden doch sicherlich Personen vor den Monitoren sitzen. Da muss man die Bank in Essen doch mal fragen, warum die Leute, die die Monitore beobachtet haben, nicht eingeschritten sind.

domradio.de: Wie erklärt sich denn dieser Total-Ausfall in Sachen Mitmenschlichkeit?

Buder Paulus: Das kann ich mir nur so erklären, dass Menschen zum einen abgestumpft sind, weil uns doch in einer Großstadt sehr viel Leid begegnet und dann die Seele einfach zumacht, weil sie sich denkt, sie könne ohnehin nichts machen und es wird sich schon irgendjemand anderes kümmern.

Zum zweiten kann auch jemand in Gedanken sein und sich sagen, er macht jetzt zunächst einmal das, was er oder sie eigentlich vorhatte. Aber es ist schon sehr bedenklich, wenn jemand in einer solchen Haltung auf dem Boden liegt - zumal ersichtlich gewesen sein sollte, dass es sich nicht um einen Betrunkenen handelt – und man sich da nicht niederbeugt. Das ist schon schlimm. Man weiß es ja auch von Unfällen auf den Autobahnen und anderen Experimenten, die durchgeführt wurden, dass die Bereitschaft zur Hilfeleistung in unserem Land dramatisch zurückgeht.

domradio.de: Es kann auch immer die Situation passieren, in denen man selber auf Hilfe angewiesen ist. Rechnen wir nicht mehr mit so etwas?

Bruder Paulus: Ich glaube, dass es eines der größten Probleme der menschlichen Seele ist, sich vorzustellen, dass man selber einmal Hilfe benötigt. Darum werden auch zu wenige Patientenverfügungen gemacht, es wird zu wenig über Testamente gesprochen und mit Angehörigen wird zu wenig darüber geredet, was sie denn tun sollen, wenn man selber einmal hilflos wird.

Das hat ein bisschen mit der ersten Seite der Bibel zu tun: Wir sind Ebenbilder Gottes und stehen in der Gefahr, dass wir uns für Gott selber halten, allmächtig und ewig lebend. Da brauchen wir immer wieder neu die Demut. Man braucht auch mal andere Menschen. Wenn man das im Herzen wachhält, dass man auch andere Personen braucht, dann kann man auch in einer Situation, in der jemand hilflos ist, sagen, man will ihm helfen, denn er ist ja so wie ich.

domradio.de: Ist dieser Fall ein Indiz dafür, dass unsere Gesellschaft verroht?

Bruder Paulus: Man kann das als Hinweis auf eine Verrohung der Gesellschaft nehmen, aber da muss man sehr genau aufpassen, dass man da jetzt nicht einen Einzelfall hochspielt. Es sind alle betroffen.

Aber gleichzeitig leben wir in einer Gesellschaft, in der es ein Altenpflegesystem gibt, wo man genau weiß, dass unsere alten Menschen nicht optimal betreut werden. Die Betreuungsschlüssel sind nicht gut genug. Kinder wachsen in Tageseinrichtungen mit auf, wo ebenfalls der Personalschlüssel fragwürdig ist. Die Schulklassen platzen aus den Nähten. Also, wir haben viele Baustellen, an denen wir irgendwie das Gefühl haben, dass darf so nicht weitergehen. Aber wir sind dann vielleicht auch zu wenig politisch.

Ich erhoffe mir gerade durch die aktuelle politische Diskussion, dass besonders auch viele Christen sagen, dass sie die Gesellschaft nicht so liegenlassen wollen, sondern mitmachen und sie aufrichten wollen und sich politisch engagieren. Wir brauchen wieder einen ganz neuen Ruck, bei dem sich jeder sagt, er könne im Kleinen aber auch in den größeren Dingen, wo wir achtlos vorrübergehen oder die Sachen laufenlassen, helfen.

domradio.de: Wie könnte denn so ein Ruck entstehen?

Bruder Paulus: Ein Ruck kann durch solche Bilder und Prozesse, wie sie jetzt geführt werden, entstehen. Da stehen nun Personen deshalb vor Gericht. Aber anstatt mit dem Finger auf diese Menschen zu zeigen, sollte man lieber die Finger sehen, die auf einen selbst weisen, damit man sich selber fragt, an welchem Missstand man selbst in dem Glauben daran achtlos vorbeigeht, dass sich schon ein anderer kümmern wird. Das ist eine persönliche Bekehrung.

Ich glaube, dass wir auch in unseren Predigten wieder konkreter sprechen müssen. Da, wo wir Christen erreichen, müssen wir deutlich sagen, dass sie ein Charisma und Kräfte haben und sich einsetzen können. "Ihr seid vor Gott groß" und weil ihr dass seid, habt ihr euch auch an den Orten groß einzusetzen, wo ihr die Dinge beurteilen könnt und Verbesserungen vorschlagt und umsetzen könnt.

Das Interview führte Heike Sicconi.


Bild aus der Essener Bank / © Polizei Essen (dpa)
Bild aus der Essener Bank / © Polizei Essen ( dpa )

Br. Paulus Terwitte OFMCap / © Sven Moschitz (privat)
Br. Paulus Terwitte OFMCap / © Sven Moschitz ( privat )
Quelle:
DR