Traditionen der Heimatvertriebenen sterben langsam aus

Ein Fall für Geschichtsbuch und Museum

Im Zuge der Flüchtlingskrise war immer wieder von der Integrationsleistung der Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg die Rede. Aber wie sieht es umgekehrt mit der Weitergabe von Traditionen aus? Eine Spurensuche.

Autor/in:
Andreas Laska
Sudetendeutsche Trachten / © Karl-Josef Hildenbrand (dpa)
Sudetendeutsche Trachten / © Karl-Josef Hildenbrand ( dpa )

"Dass die Familie meiner Mutter aus dem Sudetenland stammt, war immer präsent", berichtet Susanne Schaff. Vor allem ihre Oma habe oft von der alten Heimat erzählt. Die traumatischen Erlebnisse der Vertreibung spielten dabei natürlich eine Rolle. "Aber ich kenne auch viele schöne Erlebnisse aus ihrer Kindheit", erinnert sich die 31-Jährige. Damit nicht genug: Alte Fotos werden in Ehren gehalten, zu Festtagen gibt es schon mal traditionelle Speisen nach Omas Rezepten.

Noch in diesem Jahr plant Schaff einen Besuch in Nordböhmen auf den Spuren ihrer Vorfahren. Vor allem das Elternhaus der Großmutter möchte sie unbedingt besuchen. "Sie hat so viele Geschichten erzählt, die mit diesem Haus zusammenhängen, dass es mir richtig bekannt vorkommt, obwohl ich noch nie dort war", so die Münchnerin. Dennoch:

Als Teil ihrer Identität würde Schaff das Sudetendeutsche nicht bezeichnen. "Es ist ein Stück Familiengeschichte, das mich sehr interessiert. Aber als Person macht mich das nicht aus."

Wachsendes Interesse der Enkel und Urenkel

Was Schaff erzählt, scheint einem allgemeinen Trend zu entsprechen. "Das Interesse der Enkel und Urenkel wächst", beobachtet Stephan Rauhut, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft Schlesien. Während sich die erste Nachkriegsgeneration oft bewusst von den Eltern und ihrer Sehnsucht nach der verlorenen Heimat abgrenzen wollte, seien viele junge Leute heute auf der Suche nach ihren Wurzeln. Auch die Flüchtlingsfrage hat das Thema Vertreibung wieder neu auf die Tagesordnung gesetzt.

Und noch etwas hat sich geändert: Mit dem Aussterben der Zeitzeugen verschwinden auch die alten Ressentiments. "Die nachwachsenden Generationen nähern sich dem Thema frei von Ideologien", betont Rauhut. Was in den Nachkriegsjahren kaum denkbar war, ist heute selbstverständlich: Deutsche Jugendliche erforschen gemeinsam mit jungen Polen und Tschechen die Geschichte der einst deutsch besiedelten Gebiete. "Eine spannende Entwicklung", betont Elisabeth Fendl vom Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa in Freiburg.

Aussterbene Traditionen?

Eines freilich lässt sich nicht aufhalten: Die Traditionen der Schlesier, Sudetendeutschen und anderer Heimatvertriebener werden zunehmend ein Fall für Geschichtsbuch und Museum. Je größer der Abstand zeitlich und emotional, umso weniger begreifen die Nachkommen dieses Erbe als Teil ihrer Identität, umso weniger leben sie die alten Traditionen.

Auch bei Rauhuts ist diese Entwicklung nicht aufzuhalten. Zwar bekennt sich Vater Stephan trotz Geburtsjahrgang 1974 noch bewusst zu seinem Schlesiertum und lebt dieses nicht zuletzt durch sein Engagement in der Schlesischen Landsmannschaft. Seine drei Kinder aber - zwischen 10 und 15 - denken schon anders. "Sie haben das Bewusstsein für dieses Stück Familiengeschichte, aber dass sie sich als Schlesier fühlen, würde ich nicht behaupten."

Ein Indiz für diesen Mentalitätswandel ist die Sprache. Hatte die erste Generation ihren Dialekt noch in die neue Heimat hinübergerettet, ging die Zahl der Dialektsprecher bereits in der zweiten Generation zurück. Heute sind sie so gut wie verschwunden.

"In manchen Familien wurden bestimmte Begriffe weitergegeben, mehr aber auch nicht", sagt Fendl.

Böhmische Kolatschen

Nicht selten haben diese Begriffe mit Speisen zu tun. Hier, so Fendl, entwickle sich eine Nische, in der bestimmte Traditionen bis heute überleben. Besonders zu Festtagen kommen in vielen Familien Gerichte auf den Tisch, die einst Groß- und Urgroßeltern mitgebracht haben.

Die heute wieder verbreiteten schlesischen Weihnachtsbratwürste gehören dazu oder die böhmischen Kolatschen: Hefeteiggebäcke, gefüllt mit Mohn, Quark oder Pflaumenmus.

Auch in Susanne Schaffs Familie gibt es so eine Tradition. An Weihnachten kommt immer die "Onkel-Franz-Speise" auf den Tisch, ein geschichtetes Dessert, das der Familienlegende nach auf einen Onkel ihrer Großmutter zurückgeht. Längst ist die Enkelin für die Zubereitung der Nachspeise zuständig. Eigene Kinder hat Schaff bislang nicht. "Aber dieses Rezept würde ich auf jeden Fall weitergeben. Denn ohne Onkel-Franz-Speise ist für mich nicht richtig Weihnachten."


Quelle:
KNA