Warum ältere Menschen immer oppositioneller werden

Aufstand der Betagten

Altersmilde war gestern. Immer mehr Proteste werden von älteren Semestern maßgeblich mitgetragen. Woher kommt diese Opposition der späten Jahre?

Teilnehmer beim Marsch für das Leben am 21. September 2013 / © Klaus-Dietmar Gabbert (KNA)
Teilnehmer beim Marsch für das Leben am 21. September 2013 / © Klaus-Dietmar Gabbert ( KNA )

Ein neues Schreckgespenst geht um: der zornige Alte. Als Tambourstab dient ihm, so das geläufige Vorurteil, seine Krücke. Mit ihm dirigiert er imaginäre Heere von Musikmarschierern, rechtsum auf den Dresdener Pegida-Kundgebungen, linksum bei den Protesten gegen den Umbau des Stuttgarter Bahnhofes. Es waren auch die hitzköpfigen Alten, die die Massen in Großbritannien für den Brexit mobilisierten.

Das Klischee von der Altersmilde und Besonnenheit scheint wie weggepustet. Dabei hätte man vorgewarnt sein können: In der Literatur hatten die zornigen Alten schon öfters ihren Auftritt, in Bertolt Brechts Erzählung "Die unwürdige Greisin" etwa oder in Friedrich Dürrenmatts Theaterstück: "Besuch der alten Dame."

"Alte glauben, die Jugendlichen ermutigen zu müssen..."

Ist ein Kontrollverlust die Ursache, dass sie wie Kinder Wahrheiten herausschreien? Oder glauben sie, es sich leisten zu können, weil sie auf keine Karriere mehr Rücksicht nehmen müssen? Der Grund, Altersweisheit durch Alterszorn zu ersetzen, ist nicht nur der Frustration geschuldet, dass die neue Zeit, die man nicht mehr versteht, über einen hinweggeht und man abgehängt wird. Im Gegenteil, Alte glauben vielfach, die Jugendlichen ermutigen zu müssen, die Welt zu verbessern.

2010 sorgte in Frankreich die Streitschrift des damals 93-jährigen ehemaligen Diplomaten Stephane Hessel für Furore. Der gebürtige Berliner war Mitglied der französischen Resistance gewesen, hatte das KZ Buchenwald überlebt, und war einer der Mitautoren der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen.

"Neues schaffen heißt Widerstand leisten"

Sein Aufruf zum friedlichen Widerstand gegen Finanzkapitalismus und Umweltzerstörung, für die Verbesserung der Menschenrechte und gegen die Unterdrückung von Minderheiten war als Staffelübergabe an die nächste Generation gedacht: "Den Männern und Frauen, die das 21. Jahrhundert gestalten werden, rufe ich aus ganzem Herzen und in voller Überzeugung zu: Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten, heißt Neues schaffen."

Auf den ersten Blick scheint es nicht verwunderlich, dass es unter den Alten so viele unbotmäßige Zeitgenossen gibt. Es sind die Alt-Achtundsechziger, die als Studenten vor genau 50 Jahren den Aufstand in der Außerparlamentarischen Opposition (APO) probten und sich dann in den Siebzigern und Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts in der Friedens-und Umweltbewegung engagierten. Dass sie in den Altersheimen nicht mit dem Basteln von Rupfmäusen und Mensch-ärgere-dich-nicht- Spielenachmittagen zufriedenstellen lassen würden, war abzusehen.

Jürgen Habermas, Heiner Geißler oder Hans Magnus Enzenberger

Noch heute gestalten betagte Intellektuelle wie Jürgen Habermas, Heiner Geißler oder Hans Magnus Enzenberger den öffentliche Diskurs mit. Geißler wurde sogar Mitglied der Attac-Bewegung linker Globalisierungskritiker. Aber ob sie letztlich Anschluss finden an die sogenannte Generation Y, die mit der digitalen Revolution aufwuchs und das 21. Jahrhundert maßgeblich gestalten wird, ist fraglich.

Die Politikwissenschaftler Klaus Hurrelmann und Erik Albrecht schrieben in ihrem 2014 erschienenen Buch: "Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert": "Sie unterläuft auf eine unauffällige Art scheinbar ewige Traditionen, mogelt sich sanft um vermeintliche Sachzwänge herum und hebelt still und leise Gesetzmäßigkeiten aus, die der Gesellschaft unveränderbar erschienen."

"Erweiterte Selbstwirksamkeit"

In der Revolte der Zukunft werden Klassenkämpfe und Generationenkonflikte nur noch eine marginale Rolle spielen. Im Einklang mit ihren Eltern setze die jetzige Generation "auf leisen Sohlen ihren Stil einer erweiterten Selbstwirksamkeit durch". Improvisation und Flexibilität, Abgebrühtheit und Indifferenz prägen laut Hurrelmann und Albrecht deren neuen politischen Stil.

Es mag auch die Ohnmacht eine Rolle für das Aufbegehren der Alten spielen, bald nicht mehr handeln zu können, sagt der Mediziner Michael Roggenbrod, der in seiner Praxis den Kampf um die Selbstbestimmung im Alter beobachtet. Das Fontane-Zitat gilt laut Roggenbrod längst nicht mehr. "Wer mit 19 kein Revolutionär ist, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch ein Revolutionär ist, hat keinen Verstand."

Von Andreas Öhler


Quelle:
KNA