Therapeut Hantel-Quitmann über Sehnsüchte

"Suche nach einem vollkommenen Leben"

Wolfgang Hantel-Quitmann hat der Sehnsucht ein komplettes Buch gewidmet: "Sehnsucht - das unstillbare Gefühl".  Wie Sehnsüchte Antrieb bringen, aber auch blockieren können, erläutert der Familien- und Paartherapeut im domradio.de-Interview.

Sehnsucht / ©  Maja Hitij (dpa)
Sehnsucht / © Maja Hitij ( dpa )

domradio.de: Können Sie eine Definition geben: Was ist Sehnsucht?

Wolfgang Hantel-Quitmann (Psychologieprofessor und Familien- und Paartherapeut): Da fängt das Dilemma schon an. Zunächst ist Sehnsucht ein Gefühl, das mich in den Wahnsinn treibt, mir Schmerzen bereitet und gleichzeitig Glücksgefühle hervorruft. Es lässt mich Achterbahn fahren, es lässt mich von Sinnen und es lässt mich nicht in Ruhe. Gleichzeitig kann es warm und wunderbar sein. Aus der Emotionspsychologie heraus würde man sagen: Es ist ein ganz komplexes Mischgefühl und sehr kompliziert, weil viele andere Gefühle daran beteiligt sind. 

Man kann einfach sagen, dass Sehnsucht ein Sehnen und Suchen nach einem vollkommenen und glücklichen Leben ist; das wäre eine mögliche Definition. Außerdem kann man sagen: Sehnsucht ist der Versuch einer symbolischen Wunscherfüllung, oder es ist eine traumhafte Lösung für unsere verschiedenen Lebensthemen und Probleme. Zunächst einmal ist es ein bittersüßes Gefühl, das einerseits süß ist, weil wir darin einen Traum und einen tiefen Wunsch wiedererkennen. Aber es ist auch etwas Bitteres dabei, weil es gleichzeitig so unerreichbar und unmöglich erscheint, jemals erreicht zu werden. Das ist das Widersprüchliche in der Sehnsucht.

domradio.de: Warum ist die Sehnsucht ihrem Wesen nach unstillbar, so wie sie es in Ihrem Buchtitel formulieren?   

Hantel-Quitmann: Wenn ich die Sehnsucht und das, wonach ich mich sehne, erreiche und umsetze, dann ist die Gestalt geschlossen und ich habe ein Bedürfnis befriedigt. Allerdings liegt in der Sehnsucht viel mehr als das. Sie verbindet sich mit der Fantasie, die etwas Unerschöpfliches und Unermessliches ist. Insofern ist die Sehnsucht als Idee immer größer als das, was letztlich in der Realität da ist. Deswegen haben manche Menschen auch eine Sehnsucht nach der Sehnsucht, weil dieser Zustand vor der Befriedigung einer Sehnsucht noch alle Möglichkeiten enthält.

Wenn ich mich dann entscheide, ist die Entscheidung schon gefallen. Bei der Partnerwahl zum Beispiel liegt ein großes Dilemma darin, dass man sich nicht nur für einen entscheidet, sondern immer auch alle anderen Optionen ausschließt. In der Liebessehnsucht ist noch der Wunsch nach einer tiefen Liebesbeziehung enthalten. Da sind auch alle Möglichkeiten einer Liebesbeziehung enthalten. Wenn ich mich dafür entscheide, dann ist damit alles andere an Möglichkeiten gleichzeitig ausgeschlossen.

domradio.de: In Ihrem Buch schreiben Sie: "Die Taube auf dem Dach ist eben doch besser als der Spatz in der Hand." Ist das ein Plädoyer dafür, die eigenen Sehnsüchte zu kultivieren und ihnen Raum zu geben?  

Hantel-Quitmann: Das ist eine schwierige Frage, weil ich glaube, dass es gut wäre, seine eigenen Sehnsüchte zu kennen. Es wäre auch schön, von seinen eigenen Sehnsüchten zu lernen, weil das mit der Selbsterkenntnis verbunden ist. In den Sehnsüchten spiegeln sich nicht nur eigene Lebensthemen, Liebesthemen und Wünsche, sondern auch gleichzeitig alle Ideen, die ich für Lösungen und letztlich für ein alternatives Leben habe. Insofern ist das mit Träumen verbunden. Ich würde jedem Menschen wünschen, dass er seinen Träumen und Sehnsüchten folgt, aber die Sehnsüchte müssen auch reflektiert werden. Man muss sehen, was sich hinter den Sehnsüchten verbirgt und wem man mit der Verwirklichung der eigenen Sehnsucht schaden könnte, obwohl es für mich eine wunderbare Vorstellung ist.

domradio.de: Welche Rolle spielen Sehnsüchte in Ihrer Rolle als Paar- und Familientherapeut? 

Hantel-Quitmann: Eine sehr große, denn ich habe immer mit Menschen zu tun, die mit ihrer Wirklichkeit unzufrieden sind. Sie beklagen sich in ihren Beziehungen über mangelnde Wertschätzung, mangelnde Liebe und über unerwünschte Entwicklungen in der Partnerschaft. Dann entstehen aus diesem unvollkommenen und unbefriedigten Leben heraus tiefe Sehnsüchte nach Beantwortung, Liebe, Verschmelzung und nach Zärtlichkeit. Sie sehnen sich nach einem Leben, das von Problemen und Schwierigkeiten befreit ist und wieder eine Leichtigkeit und eine Nähe hat. Sehnsüchte sind sehr bedeutsam, und man muss versuchen, sie zu erfassen, verstehen und jeweils zu interpretieren.

domradio.de: Wann wird denn eine Sehnsucht quälend?

Hantel-Quitmann: Im Grunde genommen ist Sehnsucht schon von Anfang an quälend, weil es ein Gefühl der Unvollkommenheit im eigenen Leben ist. Dass man etwas vermisst, dass man sich nach einem erfüllteren, sinnstiftenden Leben sehnt, nach einem Leben, das mehr Glück hat. Das ist eine quälende Seite. Die Sehnsucht versucht, diese als defizitär empfundene Wirklichkeit irgendwie zu überwinden, also aus dem unerträglichen Zustand der Wirklichkeit etwas Kreatives zu machen. Die Sehnsucht hat im Grunde genommen immer auch eine destruktive - wenn sie so wollen - auch quälende Seite, und eine kreative Seite.

Mit der Sehnsucht kann ich eine bestimmte Wirklichkeit einerseits aushalten, indem ich auch aus einer Wirklichkeit herausgehe, und mich nach etwas sehne, das nicht in meiner Wirklichkeit vorhanden ist. Das ist der quälende, schmerzliche und auch bittere Aspekt bei der Sehnsucht. Auf der anderen Seite ist die Sehnsucht etwas sehr kreatives, weil sie mich dazu antreibt, mein Leben zu verändern und vorwärts zu kommen und nach persönlicher Verwirklichung und Veränderung meiner Lebensumstände zu streben.

domradio.de: Würden Sie demnach sagen, es gibt so etwas wie gute Sehnsüchte und schlechte Sehnsüchte?

Hantel-Quitmann: Das ist immer eine Frage der Perspektive, wie immer man beschreiben möchte, was gut oder was schlecht ist. Wenn sie sich beispielsweise vorstellen, ein Mann lebt mit einer Frau und zwei Kindern in einem ganz normalen wunderbaren Leben. Sie haben sich das so eingerichtet in einem bestimmten Lebenskonzept: Er hat eine Vollarbeit, sie hat eine Halbarbeit, kümmert sich um die Kinder, in einem kleinen Vorstadthaus oder einem Reihenendhaus. Dann trifft er eine Frau, bei der er erst bei dem Treffen merkt, wie tief seine Sehnsucht nach einem anderen Leben ist. Würden Sie ihm jetzt sagen, er soll seine Familie verlassen und seiner Sehnsucht folgen oder ist das unvernünftig?

Die Vernunft sagt zur Sehnsucht immer: Lass das sein, spinn nicht rum, prüf doch erst einmal was los ist und schwirr nicht immer in irgendwelchen Ideen herum. Und die Sehnsucht sagt: Diese Vernunft ist mir viel zu abgeklärt, zu destruktiv. Das ist ein großes Dilemma, das sich nicht generell lösen lässt. Manchmal ist es so - das kann ja sein - dass dieser Mann die große Liebe seines Lebens trifft. Auf der anderen Seite gibt es aber so etwas wie Verantwortlichkeit, und das hält ihn dann davon ab, die Beziehung zu verlassen, insbesondere wenn er dann an die Kinder denkt. Für ihn ist dann die Liebessehnsucht, die sich mit seiner Liebesaffäre verbindet, etwas Gutes, während es natürlich für die betroffene Ehefrau und die Kinder zunächst einmal etwas Schlechtes ist.

domradio.de: Sie schlagen in Ihrem Buch auch einen sogenannten Realitätscheck vor. Was meinen Sie damit?

Hantel-Quitmann: Wir haben es ja hier bei den Sehnsüchten, insbesondere bei den Liebessehnsüchten, mit großen Projektionen zu tun. Wir projizieren in die Sehnsucht, in die Idee der Sehnsucht, aber manchmal auch in die konkrete Person, all die Liebessehnsüchte hinein, damit wir sie hinterher wieder aus ihr herauslieben können. Das ist ein unglaublich projektiver Vorgang. Das muss dann an der Wirklichkeit geprüft werden. Ist das umsetzbar, ist das realistisch, ist das vernünftig? Diese Realitätsüberprüfung ist dringend notwendig. Ich habe ja gerade das Beispiel von dem Mann gebracht, der sich in eine andere Frau unsterblich verliebt hatte und dann mit ihr eine Liebesaffäre hatte. Er muss natürlich prüfen, welche Konsequenzen sein Handeln hat und welche Konsequenzen auch die Umsetzung seiner Sehnsucht hat. Davon kann er sich nicht einfach frei machen.

domradio.de: Was haben Sehnsüchte mit Zukunft, was mit Vergangenheit zu tun?

Hantel-Quitmann: Es ist sozusagen der Raum der Möglichkeiten. Sehnsüchte haben ja etwas Zeitloses. Man muss verstehen, welche Symbolik in der Sehnsucht enthalten ist. Der Zugang zum Verständnis der Symbolik, also dazu, was sich hinter der Sehnsucht verbirgt und warum dieser Mensch gerade diese Sehnsucht hat, erschließt sich nur über seine Vergangenheit, häufig über seine Biografie oder auch über die Beziehungen, die er gerade lebt. Auf der anderen Seite haben Sehnsüchte etwas extrem Kreatives und Zukunftsgestaltendes. Da kann natürlich etwas verwirklicht werden, was die Lösung all der Probleme im jetzigen Leben darstellt.

 

Das Interview führte Hilde Regeniter. 


Quelle:
DR